Friedrich Naumannn 1860 - 1919
Der heilige Abend
Es ist Weihnachtsabend, die letzten kleinen Lichter brennen noch am Tannenbaum,
die Kinder spielen, allmählich ruhiger geworden, mit den neuen Sachen, die
Bescherung ist vorbei; ist nun auch aller Weihnachtsgedanke fertig und vorbei?
Geht es nun wieder in gleichem Schritt und Tritt durch alle Tage, bis wieder
einmal die Lichter angesteckt werden? Ist alle innere Erhebung nur wie der
kurze Glanz des Bäumchens auf dem Tisch? Fallen wir nun, nach dem Feste,
sofort wieder in unser gemächliches Gewohnheitschristentum, von dem man
überhaupt kaum recht weiß, ob es noch Christentum ist? Oder bleibt
uns etwas? Und wenn etwas bleibt, so fragt es sich, was dieses Bleibende ist.
Es bleibt ein tiefer Eindruck davon, dass wir Christen eine Brudergemeinschaft
sein sollten. Christi arme Krippe lässt uns nicht ganz zur ruhe kommen.
Wir hörten in der Kirche singen: "Er ist auf Erden kommen arm, dass
er unser sich erbarm und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln
gleich." Diese Liebe ist das heilige Weihnachtsgeschenk, das wir bis ins
Innerste hinein fühlen. Jesus, der brüderlichste von allen, die
leibhaftige Liebe, ist uns geboren. Er ist vor vielen Jahrhunderten geboren und
stirbt nun niemals. Die Liebe ist lebendig und klopft bei uns an, ob wir sie
einlassen wollen. Das Weihnachtsfest hat uns wieder gefragt: wollt ihr zum
Reiche Gottes gehören, zum Bunde der Hilfe und Liebe?
Ob wir wollen? Ja, Herr, wir möchten wohl, aber es ist uns zu schwer! Wir
versuchen es, deine Liebe in unser Leben hineinzusetzen und machen dabei die
beständige Erfahrung unserer großen Hilflosigkeit. Wo und wie soll
man anfangen, um wirklich Liebe zu üben? Man versucht es mit einzelnen
Menschen und merkt, wie viel dazu gehört, auch nur einigen anderen
wirklich zu dienen. Hinter den einzelnen, die wir lieben möchten, stehen
aber Tausende, grau und massenhaft, arme Menschen, mit armen Seelen. Liebst du
die auch? Oder gehen diese dich nichts an? Ist die Masse nicht da für
dich? wie kann man aber die Masse lieben? Soll man sie lieben in Zorn oder in
Geduld? Soll man für sie kämpfen oder mit ihr leiden? Oder ist beides
zugleich möglich? Was ist überhaupt allgemeine christliche
Menschenliebe? Ist es etwas Wirkliches oder haben sich das fromme Leute nur so
gedacht? Ach, lieber Heiland, der du aus Liebe in die Welt kamst und aus Liebe
starbst, nimm du uns in der Stille der Weihnachtstage ruhig zur Seite und gib
uns einen praktischen Unterricht in dem, worin du Meister bist! Herr, lehre uns
Liebe haben!
Wenn wir die rechte Liebe hätten, dann würden wir dem Frieden auf
Erden näher sein. Wo lebendige Liebe ist, da ist persönlicher innerer
Friede, denn da fehlt die Zerrissenheit, die durch Hass und Neid in die Seelen
hineinkommt. Wer wirklich liebt, der glaubt an Gott, denn er sieht sein Leben
nicht als verloren an. Er hat einen Zweck, eine Aufgabe, er ist nicht ein Spiel
des Zufalls und des blinden Ungefährs. Wer Christi Liebe versteht, der hat
in sich das Verständnis gewonnen für den Zusammenklang: Ehre sei Gott
in der Höhe und Friede auf Erden! Er ist herausgenommen aus der Welt der
bloßen irdischen Nichtigkeiten. solche Personen aber sind die Vorboten
besserer Zustände im menschlichen Gemeinschaftsleben. Aus ihrer Gottes -
und Nächstenliebe heraus entwickelt sich ein Geist wahren Christentums,
der wie eine seelische Elektrizität von einem auf den andern
übergeht, von Eltern auf Kinder weiterströmt, und weiter wirkend viel
hartes Menschenmetall schmilzt und viel frohe Botschaft vermittelt. Wir lernen
zur heiligen Weihnacht daran glauben, dass auch die Liebe des kleinsten und
ärmsten Menschenkindes nicht vergeblich ist zum Herbeiführen des
Friedens auf Erden. Dieser Friede, nach dem eine tiefe Sehnsucht in jeder Brust
schlummert, ist nicht ohne Kampf zu erreichen, er kommt auch nicht mit einem
Male, aber niemand ist, hoch oder niedrig, der ihm nicht dienen könnte,
wenn er nur will.
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