Dora Schlatter 1855 - 1915
Durch Nebel zur Klarheit
"Die Nachtigall mit süßem Schall
Singt alles gleich vom Blatt", -
so tönte eine helle Knabenstimme aus der Scheunentür, und wahrlich,
sie klang wie ein Glöcklein in dem hohen Raum.
"Mach' doch, dass der Franz nicht immer singt, ich hör's nicht
gern", brummte drin in der Stube der alte Vater, der bleich und matt auf
dem Ofentritt saß und bedenklich an seinen dick umwickelten Beinen, in
denen der Rheumatismus ihn plagte, nieder blickte. Vergebens hatte er sich an
den warmen Ort geflüchtet, in der Hoffnung, hier die Schmerzen zu lindern;
sie blieben so heftig wie zuvor. Es war draußen auch schon so feuchtkalt,
und der graue Nebel hing schwer vor den Fenstern. Der Vater war sonst
gleichmäßiger in der Stimmung gewesen, aber seit der Rheumatismus
ihn zwang, in der Stube zu sitzen, während draußen noch die
Herbstarbeit zu tun war - seitdem sah es in seinem Innern aus wie ein
hässlicher, grauer Nebeltag. Dass er gerade jetzt krank werden sollte, und
dass die Buben nun ganz allein schalten mussten, das wurmte im Herzen des alten
Mannes, der sein Leben lang gesund und tätig gewesen war. Zwar kannte er
den lieben Gott und hatte in seinem Hause fleißig in Gottes Wort gelesen,
er galt auch weit im Lande für einen frommen Mann; aber der Nebel war
gekommen und hatte ihm das Licht verdunkelt, dass er nicht mehr durchsah. Er
verstand den lieben Gott durchaus nicht und dachte, er wolle jetzt nur ein
wenig das Gesicht von ihm wegnehmen, vielleicht tue es ihm dann leid, dass er
ihn so plage, und dann nehme er das Übel weg, und alles sei wieder gut. Es
ist nicht immer leicht, in den bösen Tagen dem lieben Gott frei und offen
ins Auge zu schauen.
Die Mutte hatte viel zu tragen; es tat ihr weh, dass niemand seine Sache recht
machen konnte, und dass vor allem der Franz manch scharfes Wort zu hören
bekam. Darum ging sie heute still hinaus und sagte: "Franz, sing' nicht so
laut, der Vater mag's nicht gern!"
"Ja, du hast ja erst vorhin gesagt: "Rechne nicht immer, das ist
nicht gut"; was soll ich denn tun?" Die Mutter lachte. "Ist's
nicht genug am Rüben schnätzeln , muss der Mund durchaus etwas
mittun? Nun, dann versuch's, still zu singen, weißt du - einwärts,
nicht auswärts!"
Der Franz hackte mit seinem Messer auf und ab, so dass die gelben Scheiben der
großen Rüben nur so umherflogen. Und jetzt kam es ihm wieder in den
Sinn: "Ein Gesangbuch kostet eine Mark; wenn ich mein Kaninchen verkaufen
könnte um eine Mark zwanzig Pfennige, so blieben mir noch zwanzig Pfennige
übrig. Wenn ich nur wüsste, wo ich es verkaufen könnte!"
Franz hackte fürchterlich drauf los, und der Ausdruck seines Gesichts
wurde ein wenig verzweifelter, je mehr er daran dachte, wie notwendig er ein
Gesangbuch haben sollte für die Schule, die im Winter wieder
regelmäßig gehalten wurde. Aber der Vater wollte ihm das Geld dazu
nicht geben. Das Gesangbuch fraß ihm am Herzen wie ein nagender Wurm.
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, fröhliche Hoffnung strahlte aus
seinen blauen, gutherzigen Augen, und mit erneuter Behändigkeit hackte er
seine Rüben entzwei.
Die Zeit des Nachtessens kam. Der Vater saß so stramm als möglich
mit bei Tisch und löffelte mit aus der großen Schüssel
dampfenden Milchbreies. Heiner und Jörg klapperten tapfer mit. Da
tönte plötzlich Franzens Stimme über die Löffelmusik:
"Mutter, nicht wahr, es ist bald Martini?"
"Ja, in acht Tagen", lautete die kurze Antwort. "Dann ist mein
Geburtstag; könntest du mir nicht dann ein Gesangbuch schenken? Ich
möchte auch Geburtstag feiern wie andere. Mutter, warum feiert man meinen
Geburtstag nicht?" Die Stimme des Knaben ward immer dringlicher und
bittender, je mehr er die Blicke der Brüder groß und verwundert auf
sich ruhen fühlte. Er schwieg, und es entstand eine Stille. Als die Mutter
endlich den Mund öffnen wollte, ertönte schon Vaters Stimme scharf
und strenge: "Was, deinen Geburtstag sollte man feiern? Nein, den feiern
wir nicht, dazu haben wir keine Ursache!" Franz schaute ganz erschrocken
auf. Hatte er etwas Böses gesagt? Warum machen die Buben so sonderbare
Gesichter? Und warum tönte des Vaters Stimme so ernst? Sein kleines Herz
krampfte sich ängstlich zusammen. Er hatte keine Ahnung, dass er mit
seiner Frage einen wunden Punkt des Hauses, über den seit Jahren die Decke
des Schweigens lag, berührt hatte. Vater und Mutter waren eigentlich nicht
Vater und Mutter für ihn; man hatte ihn nur in dem Glauben erzogen. Der
eigene Vater war weit fortgegangen nach Amerika, die Mutter diente in einer
großen Stadt. Sie durfte zu den Eltern nicht mehr kommen. Ihren Jungen
wollten sie aufziehen wie einen eigenen; das arme Würmlein dauerte sie als
es eines Tages schmal und bleich vor ihrer Tür lag; aber erst wenn er
erwachsen sein würde, sollte er erfahren, wo seine Mutter sei. Und nun
sollte der Vater seinen Geburtstag feiern, den Tag, der ihm Tränen und Weh
gekostet, der ihm die Tochter für immer vom Herzen gerissen! Als die
Mutter den Tisch abdeckte und Franz trübselig an ihr vorbeischlich, strich
sie ihm liebkosend über den blonden Krauskopf und sagte: "Nimm dir's
nicht so zu Herzen, was der Vater sagte. Er meint's nicht böse. Die
Schmerzen machen ihn mürrisch!"
Martini war ungefeiert vorübergegangen. Das Kaninchen hatte sich nicht
verkaufen lassen, deshalb war auch kein Gesangbuch gekauft worden, und die
Sehnsucht danach war in dem kleinen Herzen immer noch brennend geblieben. Aber
Franz schwieg und sang nur aus dem Herzen, so oft er allein war. Seiner Stimme
zuzuhören, war für jedes Ohr eine Freude, und die Mutter dachte oft
im stillen: "So singen sie gewiss im Himmel."
Der Vater war immer noch krank, ja, er wurde täglich kränker. Nur
noch stundenweise stand er aus dem Bett auf und saß auf der warmen
Ofenbank. Wenn er mit der Mutter allein war, ward er leicht wehmütig und
sprach dann vom Sterben. Der Nebel hing immer noch vor dem Fenster und vor dem
Herzen, das alte Vertrauen zu Gott war noch nicht recht wiedergekommen.
Es war vier Tage vor Weihnachten, da stellte sich Franz neben die Mutter an den
Herd auf dem die Holzscheide knackten und sagte: "Du, Mutter, alle Leute
feiern Christkindleins Geburtstag, das können wir wohl auch, nicht? Das
ist doch wert zu feiern?" Ganz herausfordernd schauten die blauen Augen
die Mutter an.
Diese hatte das Gespräch von damals längst vergessen, wusste also
nicht, worauf der Junge anspielte, und sagte deshalb harmlos: "Gewiss ist
das Christkind es wert, dass man es feiert. Wir alle sind ja so froh, dass es
kam. Aber, ob wir's nun feiern, weiß ich nicht recht. Weißt, der
Vater ist gar krank!" "Ja - aber", erwiderte Franz, der diesmal
die Schlacht nicht gleich verlieren wollte, "alle Menschen feiern das
Christkindlein. Der Lehrer sagt, es sei gekommen für die Reichen und
für die Armen; da ist es gewiss auch für die Kranken gekommen! Meinst
du nicht? Ach, Mutter, lass mich aus dem Walde ein Bäumlein holen! Du
sollst gewiss keine Mühe damit haben; nur ein paar Kerzenstümpfchen
musst du mir schenken. Bitte, erlaub' mir's!"
Die Mutter schaute tief in das bittende Gesicht des Jungen und sagte:
"Ja." Sie wusste, wie schwer man ein Kinderherz betrübt, wenn
man immer "nein" sagt, und Franz musste das Wort oft genug
hören. Auch sehnte sich ihr eigen Herz so sehr nach einem Strahl der
warmen, treuen Gottesliebe, dass es sich kindlich an die Hoffnung
festklammerte, er komme wirklich und gewiss in der Feier der seligen, stillen
Christnacht. Sie schaute ganz dankbar und hoffnungsvoll dem fröhlichen
Jungen nach, der eifrig mit einer rostigen Axt davonrannte, um den Gedanken so
schnell als möglich in die Tat umzusetzen.
Es ist kalte, sternklare Christnacht vom Kirchturm zu Bleikendorf tönen
die Glocken herüber, hell, froh, feierlich. Der alte Vater sitzt auf
seinem gewohnten Platz ganz allein in der leeren Wohnstube, die von der kleinen
Öllampe mühselig erleuchtet wird. Er hört die Glockenklänge
durch die Luft schweben, eigen schlagen sie an sein altes Herz und pochen:
Mach' auf dem Klang, tu' auf dem Ton, wir feiern Christnacht! Ach, wenn er doch
recht feiern könnte! So viele Jahre hat er's froh getan und hat stets dem
Herrn Jesus danken können, dass er sein schönes Himmelreich verlassen
habe, um den alten sündigen Jörg selig zu machen. Aber heute kann
er's nicht. Er hat all die vielen Wochen den Nebel stehen lassen zwischen ihm
und dem Herrgott und hat in seinem Herzen gemurrt: "Wenn du mir so
böse Schmerzen schickst, dass es in den Gliedern zwickt und zwackt und mir
nicht Ruhe lässt im Bett und nicht ruhe auf dem Stuhl, so will ich jetzt
grad' auch nicht mehr viel an dich denken." So hat er sich durchgeschlagen
durch die bösen Schmerzenstage und Nächte, und weil er mit dem lieben
Gott in Feindschaft gelegen, hat ihm niemand geholfen sein Leid zu tragen, und
darob ist sein Herz schier erlegen. Jetzt aber sehnt es sich nach dem
Gottestrost und dem Vaterherzen; er hätte gern die Arme ausgestreckt, aber
es braucht immer lange Zeit, bis ein trotziges Menschenherz sich beugt. Die
Glocken tönen immer weiter: "Tu' auf die Tür!" "Warum
sie mich wohl so lange allein lassen?" dachte der Vater und blickte
sehnsüchtig nach der Tür. Siehe, da öffnete sie sich langsam und
sachte, und herein schiebt sich ein Lichterbäumchen, breitästig und
strahlend, und schickt seinen fröhlichen, jauchzenden Glanz in die einsame
Stube und auf den stillen Mann am Ofen. Ängstlich schielt Franz hinter den
Ästen hervor, ob der Vater keinen Protest erhebe gegen das herzige
Bäumlein; als aber alles still bleibt, stellt er es auf den Tisch, und auf
einen Wink der Mutter, die ihm ebenso ängstlich gefolgt war, hebt er zu
singen an, erst leise, dann immer lauter und jubelnder:
Lobt Gott, ihr Christen, allzu gleich:
In seinem höchsten Thron, :
Der heut schließt auf sein Himmelreich:
Und schenkt uns seinen Sohn. :
Er kommt aus seines Vaters Schoß:
Und wird ein Kindlein klein, :
Er liegt dort elend, nackt und bloß:
In einem Krippelein. :
Er wird ein Knecht und ich ein Herr, :
Das mag ein Wechsel sein! :
Wie könnte doch wohl freundlicher:
Dein Herz, o Jesu, sein! :
Dem alten Vater schimmerte es vor dem Blick. Der Nebel zerriss, und
plötzlich strömte es wie eitel Klarheit in sein Herz. "Also
geliebet!" zuckte es durch seine Seele. Er ließ sein Taschentuch
fallen, und als Franz hinlief und es aufhob, strich der Vater über seinen
Krauskopf und sagte: "Das hast du gut gemacht!"
Als sich Franz umdrehte, sah er plötzlich die großen Brüder
hinter dem Tisch sitzen; sie starrten mit großen, glänzenden Augen
in die Lichter, und unter dem Bäumlein - da lag etwas, - Franz kannte es
gleich - da lag ein schönes, neues Gesangbuch. "Mutter, jetzt
kommt's, jetzt an Christkinds Geburtstag!" Wie der Blitz hatte er das Buch
erfasst und drückte es laut jubelnd an sein Herz. "Dank, Mutter,
Dank!" rief er und wollte sie umarmen. sie aber wehrte und sagte:
"Ich weiß nichts davon. Ich glaube, das Christkind hat's selbst
gebracht. Oder weiß der Jörg etwas davon?" Dieser aber knurrte
etwas Unverständliches.
Freilich wusste der Jörg davon. Franz hatte wohl sein Bäumlein in der
dunkelsten Ecke des Heubodens versteckt; aber so gut gelang's doch nicht, dass
nicht der findige Bruder es entdeckt und Zweck und Ziel gewittert hätte.
`s ist aber auch kein Bruderherz so hart, wie's manchmal scheint. Gestern hatte
er beim Buchbinder in Bleikendorf ein neues, schönes Gesangbuch gekauft,
um die alte Sehnsucht zu stillen.
Franzens Freude war auch eine reiche Belohnung für die Liebestat, und
gleich wurde es aufgeschlagen und weiter gesungen - Lied um Lied dem Christkind
zu Ehren, dass sie heute zu fröhlichen Kindern eines hellen, seligen
Gottesreichs gemacht hatte.
Dem Christabend folgt die Silvesternacht. Wieder ist's Abend, und der Vater
sitzt auf der Ofenbank; aber sein Auge blickt so freundlich, und sein Mund
spricht so milde Worte wie seit Wochen nie. Der Riss im Nebel ist geblieben,
und der Strahl von der Gottesklarheit hat ihm geholfen, die Schmerzen zu tragen
und geduldig zu bleiben. Er hat noch mehr gewirkt als das.
Eine Frauengestalt sitzt neben ihm; man könnte sie für die Mutter
halten, so ähnlich ist sie; aber sie ist zwanzig Jahre jünger. Heute
ist sie gekommen und hat lange mit dem Vater gesprochen und viel dazu geweint.
Jetzt lächelt sie freundlich. Sie haben Franz gesagt, das sei seine
Mutter. Er begreift nicht, wie das so plötzlich sein soll, und beguckt sie
von der Seite. Eins aber gefällt ihm an ihr. Sie hat dem Vater eine
wollene Decke ums Knie gelegt, und nun sieht er so behaglich und umsorgt aus
und sagt, es tut ihm wohl.
Als es in der Stube ganz still ist, sagt der Vater: "Franz, sing' eines
von den Liedern der letzten Tage. Ich muss dich nun noch oft hören, damit
es mir nicht fremd ist, wenn ich bald die Engel droben singen hör'. Bald
ist's soweit!"
Der Mutter wollten die Tränen kommen. Franz aber hebt zu singen an, dass
es tönt wie ein feines, reines Glöcklein, das das Schwinden des
Jahres begleitet:
"Zuletzt müsst ihr doch haben recht,
Ihr seid nun worden Gott's Geschlecht;
Des danket Gott in Ewigkeit,
Geduldig, fröhlich, allezeit!"
Dann war's stille im kleinen Kreise, stille über den gefalteten
Händen des Alten; aber es war die Stille eines friedlichen Herzens, das
versöhnt ruhte in dem Willen Gottes. -
|
|
Weihnachten im
deutschen Hause
Gustav Freytag
Bärbels
Weihnachten
Ottilie Wildermuth
Weihnachten im Walde
Guido Hammer
Weihnachtszauber
Agnes Günther
Der heilige Abend
Friedrich Naumannn
Weihnachten bei
Theodor Storm
Gertrud Storm
Friede auf Erden
Adolf Schmitthenner
Eine Weihnachtsreise ins
altpreußische Land
Bogumil Goltz
Weihnachten im
Maschinenhaus
Heinrich Lersch
Weihnachten
Adalbert Stifter
Die Roratemesse
Franz Anton Staudenmaier
Bethlehem
Alban Stolz
Das erste Gebet
Christi nach der Geburt
Martin von Kochem
Die drei Opfergaben
Alban Stolz
Die
Weihnachtskrippe daheim
Christoph von Schmid
Die erste
Reise des Jesuskindes
Martin von Kochem
Frau Ursulas
Bescherung
Theodor Meyer-Merian
Durch Nebel zur
Klarheit
Dora Schlatter
Eine
Weihnachtsgeschichte
Dora Schlatter
Gelobet seist
du, Jesus Christ
Dora Schlatter
Nun freut euch, lieben
Christen g'mein
Dora Schlatter
Weihnachten an der
Linie
Dora Schlatter
Wer hat die
größte Freude?
Dora Schlatter
Bergkristall
Adalbert Stifter
Eine
Weihnachtsbescherung
Wilhelm Jensen
Der Weihnachtsabend
Christoph von Schmid
|