Dora Schlatter 1855 - 1915
Eine Weihnachtsgeschichte
"O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!"
klang es von frischen Kinderstimmen und einer tiefen, klaren Frauenstimme durch
die Räume des Thalbacher Pfarrhauses. Als der letzte Ton verhallt, war's
ein paar Augenblicke still in dem gemütlich warmen Wohnzimmer. Aber nicht
lange!
"Warten wir nie meine Leidenschaft sein, auch wenn ich Methusalems Alter
erreichen sollte!" hub Karl, der dreizehnjährige Gymnasiast an, der
gestern zu den Ferien heimgekommen war.
"Es ist aber doch so notwendig, dass man warten lernt", erwiderte
Lenchen mit weiser Miene; "wer diese köstliche Kunst nicht
verstände, sagte die Mutter neulich, der käme ihr vor, wie ein
Mensch, der ein Buch lesen wolle, ohne das ABC gründlich gelernt zu haben.
Man würde eben nicht fertig im Leben ohne das Warten."
Johanna und Elsbeth, die beiden neunjährigen Zwillinge, rückten dich
zu der Tante heran, die strickend in der Sofaecke sitzt, und Johanna bittet:
"Ach, erzähle und doch etwas! Auch mir will der Nachmittag schon
endlos erscheinen!"
"Und hätten wir nur", fährt Elsbeth fort, "unsere
Weihnachtsbesuche bei den Kranken nicht schon mittags gemacht, da wäre
jetzt die Zeit, bis der Vater zur Bescherung ruft, schön ausgefüllt.
Ach ja erzähle, bitte, bitte!"
"Nun, erzählen will ich wohl, Kinder", sprach die Tante, indem
ihre lieben Augen mit einem ihnen sonst fremden, träumerischen Asudruck in
die frühe Dämmerung hinausschauten. "Ihr müsst aber heute
mit ein paar Erlebnissen aus meinem eigenen Leben fürlieb nehmen - die
Erlebnisse eines Weihnachtstages vor langen, langen Jahren! An Gedenktagen, wie
Christkindchens Geburtstag, meinem eigenen und den Geburts - und Sterbetagen
meiner Lieben, da wandern meine Gedanken zurück in vergangene Zeiten und
vorwärts zu jenem großen Freuden -und Vereinigungstage, aber bei
gelesenen und gehörten Geschichten wollen sie nicht gern weilen! Heut
sind's neunzehn Jahre, seit ich mich mit Onkel Richard verlobte, den ihr beiden
Älteren ja noch gut gekannt habt. Vor acht Jahren bin ich Witwe
geworden!"
"O, dann ist's also eine wirkliche Liebesgeschichte!" meinte Karl, -
ließ das Knäuel von Elsbeths Strickzeug, mit dem er sich eine Weile
beschäftigt, achtlos fallen und setzte sich in lauschende Stellung.
"Nun ja, eine Liebesgeschichte ist's", sagte die Tante, indem ein
fast jugendliches Erröten über ihre feinen Züge flog. "Vor
allem aber preist sie die Liebe und Freundlichkeit des Herrn, der die
Menschenherzen lenkt wie Wasserbäche." Eben jetzt meldete sich der
kleine fast vierjährige Paul, der ziemlich lange ruhig in der Zimmerecke
mit einem defekten Schaukelpferd beschäftigt gewesen, und verlangte
"etwas sehr Schönes zum Spielen, etwas, das nicht verrissen oder
verbrochen wäre". Als man seine Wünsche erfüllt hatte, hub
die Tante also an: "Ich war Lehrerin an einem Mädchenpensionat in
London. Die Tage waren mühevoll und schwer. Die Arbeit wollte fast zu viel
werden für Körper und Geist. Und was das Schwerste war in meiner
dortigen Stellung - der Herr und sein Wort bildeten nicht den Mittelpunkt der
Erziehung und des Unterrichts! Man beschäftigte sich zu viel mit
Äußerlichkeiten, mit Nebendingen! Die zum Teil schon erwachsenen
Mädchen wurden vollgestopft mit allerhand Kenntnissen und Wissenschaften,
vor allem mit Zeichnen, Malen, Musik, Französisch und Italienisch. Von dem
einen aber, was Not tut, wurde ihnen wenig gesagt, und das wenige in trockener,
mechanischer Weise, ohne Lebenskraft und Lebenswärme. Die Vorsteherin,
eine wohlwollende, feingebildete Frau, war allerdings kirchlich gesinnt, aber
von einer Gebets -und Lebensgemeinschaft mit dem Herrn schien sie nichts zu
wissen. Ich dagegen wollte ihm ja so gern angehören, doch wurde mir's
schwer, bei dem unruhevollen, oberflächlichen Leben still und
unverrückt mich an ihn zu halten.
Das Weihnachtsfest war herangekommen. die Pensionärinnen reisten für
die Ferien ins Elternhaus. Mir war es als eine besondere Vergünstigung
gestattet, während derselben in der Anstalt zu bleiben. Die Vorsteherin
hatte für den ersten Weihnachtstag die Einladung einer befreundeten
Familie in Syddenham, einer der zahllosen Vorstädte Londons, angenommen
und gedachte schon am 24. früh dorthin aufzubrechen, obgleich dem lieben
heiligen Abend nicht sein Recht ward. Nach der kirchlichen nimmt bei der
häuslichen Feier das Mittagessen am ersten Festtage entschieden den
Hauptrang ein. Bei demselben dürfen in den einigermaßen wohlhabenden
Ständen weder der Truthahn noch der Plumpudding fehlen.
Ich hatte zwar auch Bekannte in London - eine Familie, an die ich einen
Empfehlungsbrief gebracht, und die mich seither häufig in ihr liebes,
frommes, gastliches Haus aufgenommen. Es war die Familie des Bankiers Pfeiffer.
Vater und Sohn waren im Geschäft tätig; die Mutter waltete - eine
echte, deutsche Hausfrau - still und umsichtig im Hause, suchte aber auch
außerhalb desselben Armut und Elend zu lindern, soviel sie vermochte.
Eine Einladung aber zum Weihnachtsfest, auf die ich eigentlich sehnlich
gehofft, war nicht erfolgt. Dachten sie meiner nicht in ihrer Feststimmung?
Der 24. brach trübe und neblig an. Schnee war nicht gefallen. Ich las in
meinem Stübchen am offenen Fenster und zeichnete. Ein gutes Feuer brannte
im Kamin. Ich fühlte mich unaussprechlich einsam! Wollte denn kein
Weihnachtsglanz für mich leuchten, keine Weihnachtsfreude mein Herz
erwärmen? Da klopfte es. Die Vorsteherin trat ein und fragte, ob ich nicht
Lust hätte, sie bis Syddenham zu begleiten? Von Brixton, wo unser
Pensionat lag, konnten wir's in wenigen Minuten mit der Bahn erreichen. Sie
schlug mir vor, ein paar Stunden in den Syddenham - Kristallpalast zu gehen,
den ich oft und gern zu besuchen pflegte. Nun, für den Weihnachtstag
hätte ich mir allerdings eine andere Freude gewünscht, aber ich
willigte ein, da Miss Salmon meine Begleitung zu wünschen schien.
Es ist ein herrliches Gebäude, dieser Kristallpalast! So vollendet und
groß steht er da - mehr wie eine Schöpfung aus der Märchenwelt,
als ein mühevolles Machwerk von Menschenhänden. Zu einer
früheren Londoner Industrie - Ausstellung erbaut - ganz aus Glas
ausgeführt, nur das Gerippe von Eisen - ist er jetzt zu eine Art Museum
umgestaltet.
Langsam schlenderte ich durch die weiten Hallen. - Hier die schönsten
einheimischen und ausländischen Gewächse, zwischen denen schillernde,
prachtvoll gefärbte sowohl, als auch sangreiche Vögel umherflattern.
Gruppen von ausgestopften Tieren (Dromedare, Gazellen usw.) und Menschen aus
allen Zonen, denen man's wahrlich nicht ansieht, dass sie nur aus Holz
gearbeitet sind, so natürlich sind ihre Stellungen, so ausdrucksvoll ihre
Gesichter. Für ein paar Augenblicke glaubt sich der Beschauer in ferne
Länder versetzt, die sein Fuß nie betrat.
Dort einzelne Gestalten und Gruppen aus Marmor. Weiterhin die Bildergalerie.
Dann führt mich mein Weg in die Tropen. Riesige Wasserbassins, auf denen
sich Lotosblumen schaukeln. Auf dem Grunde des klaren Wassers schaut man die
reichen Schätze, die der Mensch aus der Meerestiefe hervorgeholt. - Stolze
Palmen, Bananen, schattige Bosketts aus Lorbeer, Zypressen, Orangen.
Glänzende Blumen des Südens, zwischen denen ganze Scharen
Kanarienvögel und schimmernde Kolibris sich tummeln. Ich ruhte ein paar
Augenblicke auf einer der Moosbänke, dem Plätschern der Springbrunnen
und den weichen Klängen der Musik lauschend, die aus dem Dunkel des
Buschwerks ertönte, ohne dass man die Urheber derselben sah. Aber bald
erhob ich mich wieder und trat in die großen, hochgewölbten Hallen
des Bazars. Ein Laden neben dem andern! Und welche Überraschung. In der
Mitte des Bazars erhob sich ein Riesentannenbaum, weihnachtlich
geschmückt, der, wie mir einer der umstehenden Diener erklärte, am
Abend für die vielen Deutschen die sich dann hier einfinden,
angezündet werden sollte. Ein deutscher Weihnachtsbaum in fremden Lande!
Sollte ich bis zum Abend im Palast bleiben und mich den Heimatlosen zugesellen?
War ich doch einsam und heimatlos wie nur einer! Meine guten Eltern ruhten
längst auf dem Friedhof; eure Mutter, meine einzige Schwester, war als
Erzieherin in einem Pfarrhause - nähere Verwandte hatte ich nicht, die
wenigen Freunde schienen mich vergessen zu haben!
Ich wollte die Frage noch nicht entscheiden. Vielleicht wär's besser, ich
bliebe daheim in meinem Stübchen! So sinnend schritt ich weiter in andere
Räume, in die sich niemand der Schaulustigen verirrt hatte. Meine Gedanken
stiegen bis an den Thron des Königs aller Könige, des Herrn aller
Herren und flehte um Frieden, um Liebe, um volles Genüge, um
Weihnachtssegen. Aber wundert euch nicht, Kinder, wenn ich erzähle, dass
eure alte Tante dabei bitterlich geweint hat! Ich war ja dazumal noch ein
armes, junges Ding, und schon so einsam und verlassen im Leben zu stehen,
wollte mir gar nicht behagen! Wenn ich auch die Gnadennähe meines Herrn
spürte, so ist doch mein Herz gleich dem anderer Menschenkinder verzagt
und trotzig von Jugend auf. Aber wohl dem, der zum Herrn geht mit seinem
Schmerz, welcher Art er auch sein mag, und bei ihm Hilfe sucht! Er erhört
unsere Bitten, schon ehe wir es aussprechen! wie es Jes.65, 24 heiß:
"Und soll geschehen, ehe sie rufen, will ich hören." Seine liebe
Hand trocknet nur gerne die Tränen seiner Menschenkinder und schenkt
ihnen, wonach ihr Herz sich sehnt
"Wusste ich doch wo ich meine kleine Freundin zu suche habe! Gott zum
Gruß!" ertönte in meiner nächsten Nähe die herzliche,
kräftige Stimme des Herrn Pfeiffer - und neben ihm stand sein Sohn, und
auch aus seinem männlichen ernsten, aber freundlichen Antlitz leuchtete
mir ein warmes Willkommen entgegen. Der Vater berichtete, dass sie mich schon
in meiner Wohnung gesucht hätten, um mich für die ganze Dauer der
Weihnachtsferien zu sich zu holen. Seine Frau habe früher schreiben
wollen, es aber im Drang der Festvorbereitungen versäumt. Wir müssten
nun allerdings erst im Pensionat einkehren, meine Sache holen und der
Haushälterin von meinem Fortgehen Mitteilung machen. "Und nun",
fuhr er fort, "erwartet mich hier, ich habe im Lesezimmer noch mit einem
Freunde zu sprechen, bin aber bald wieder bei euch."
"Ich möchte es schon einmal besuchen", sprach Richard, indem er
sich in den stillen Hallen umschaute, "jenes Land mit seinen Zedern - und
Palmenhainen, seinen endlosen Wüsten und seiner üppigen
Fruchtbarkeit, seinen mächtigen Katarakten, seinen stillen
Stromtälern, seinen Pyramiden und seinen Mumien! Nicht nur allein!" -
Ich begegnete seinem Auge, das fragend auf mir ruhte. Er ergriff meine Hand und
sagte, dass er mich lieb habe, und ob ich sein Weib werden und mit ihm nicht
etwa nur eine Reise nach Ägypten, sondern die ganze Lebensreise zusammen
machen wolle. Das war euer Onkel Richard, Kinder, und durch ihn hat der liebe
Gott meine Armut reich und mein Leben köstlich gemacht.
An jenem Abend standen wir als glückliches Brautpaar unter dem Christbaum.
Als wir am andern Morgen zur Kirche gingen, klang's in meinem Herzen: O du
fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!"
Die Mutter, die leise eingetreten war, hat schon ein Weilchen neben der Tante
gestanden. "Es ist alles bereit!" sagt sie und nickt den Kindern
freundlich zu. Der Vater tritt jetzt ein und liest die Weihnachtsbotschaft,
durch die ein Jahr nach dem andern und ein Jahrhundert nach dem andern den
Menschenkindern große Freude bereitet wird. Dann stimmt die ganze Familie
den Lobgesang an: "Vom Himmel hoch da komm ich her!" Die Tante
begleitet auf dem Klavier. Und das Glück der Jahre, die vorüber sind
- und die Weihnachtsfreude der Gegenwart - und die Hoffnung auf den Tag, wo der
Weihnachtssegen: "Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen!" erst in seine volle Kraft treten wird - das
alles hat ihr noch immer schönes Antlitz mit hellem Schimmer
übergossen. Während der zwei letzten Verse ist der Vater leise
hinausgegangen. Nun öffnet sich die Tür des andern Zimmers:
Weihnachtsglanz! Weihnachtsfreude! Weihnachtsjubel!
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Weihnachten im
deutschen Hause
Gustav Freytag
Bärbels
Weihnachten
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Die Roratemesse
Franz Anton Staudenmaier
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Alban Stolz
Das erste Gebet
Christi nach der Geburt
Martin von Kochem
Die drei Opfergaben
Alban Stolz
Die
Weihnachtskrippe daheim
Christoph von Schmid
Die erste
Reise des Jesuskindes
Martin von Kochem
Frau Ursulas
Bescherung
Theodor Meyer-Merian
Durch Nebel zur
Klarheit
Dora Schlatter
Eine
Weihnachtsgeschichte
Dora Schlatter
Gelobet seist
du, Jesus Christ
Dora Schlatter
Nun freut euch, lieben
Christen g'mein
Dora Schlatter
Weihnachten an der
Linie
Dora Schlatter
Wer hat die
größte Freude?
Dora Schlatter
Bergkristall
Adalbert Stifter
Eine
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Der Weihnachtsabend
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