Agnes Günther
Weihnachtszauber
Aus "Die Heilige und ihr Narr"
Ein dichter Nebel lag drei Tage über dem Waldland, dann kam die scharfe
Kälte, und nun hat der Wald sein schönstes Weihnachtskleid angezogen.
Wie feierliche Kandelaber sind die alten Schirmtannen, die oben auf der freien
Höhe stehen, nur dass sie ihren Kerzenschmuck nach unten hängen. Tief
bis auf den Boden senken sich ihre Äste unter der schweren Last, die nun
ein heimliches Nest bilden, von dem man sich denken möchte, dass darunter
irgendein frierendes Häslein oder Reh ein Obdach fände. Die Birken
sind mit tausend und aber tausend Kristallperlen behangen, und an ihr feines
Gefieder hat sich der Raureif angesetzt, wo ein Blattknöspchen auf den
kommenden Frühling wartet, dass es lässt, als wollte der Baum mitten
im Winter seinen Mai haben, aber einen silbernen. Jedes Möslein am Weg,
der Dornstrauch dort, aus dessen kristallenem Gezweig noch die roten Beeren
hervorleuchten, alle haben sich in köstliche Festgewänder geworfen.
Wie zierlich und fein steht der Distel ihr Silberkrönlein, wie ist aus dem
geduckten Schlehenstrauche das Meisterstück eines Elfensilberschmieds
geworden! Ganz still ist's, und nur ein Seufzen, wenn ein Zweig einen Teil
seiner Last, die ihm zu schwer geworden ist, abschüttelt. Die Buchen sind
ganz dicht geworden, und auf den Weg, über dem sie wieder, wie im Sommer,
doch nun aus edlem Weiß, Silber und Kristall, den gotischen Dom bilden,
fällt ein wunderbares gedämpftes Licht von dem sanften nebelgrauen
Himmel, der doch ein mattes Sonnengold ahnen lässt. Der Haselbusch hat
sich mit breiten silbernen Bändern behängt, die in seltsamen Bogen
und Windungen seine Zweige verbinden. Spinnfäden sind's, und wie
würde sich die emsige Spinnerin, die nun längst wie ein totes welkes
Blättlein über ihren noch schlafenden Kindlein hängt,
verwundern, wenn sie sehen könnte, was aus ihrem Gespinst geworden. Fliegt
ein Vogel auf, so stiebt ein Wölkchen von silbernen Sternen, und wie sie
fallen, so liegen sie auf dem Weg und schmücken auch ihn, der sonst so
nackt und braun ist. Zwischen den Schirmtannen hervor, welche die Höhe
umstehen, kommt auf den weißen Buchedom zu ein großer Mann
geschritten, in waldmäßigem Lodenwams, einen verschabten grünen
Filzhut auf dem krausen braunen Haar. Unter dem alten Hut leuchten in die
Pracht hinein ein Paar graublaue Augen, und wenn an dem Mann einem zuerst
nichts als seine ungewöhnliche Länge und mächtige Breite
auffallen mag, so tut's ein Blick in diese Auge, denn es sind die Augen derer,
die sehen. Als saugten sie es in sich, dieses Bild des Waldwegs, mit den
silberangehauchten Säulenreihen der Buchestämme, ferner durchleuchtet
von dem matten Opal des Himmels, "Augen, meine lieben Fensterlein . . .
Trink, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss. Dort
steht er an der mächtigen Buche, und es umschlingt ihn das Schweigen und
die feierliche Stille, und es ist, als hielten die Bäume und
Sträucher den Atem an; als müsste etwas werden, etwas Wunderbares
etwas Geheimnisvolles, etwas, das den gewöhnlichen Lauf des Geschehens
unterbricht. Und das feine Klingen von fern und nah und das Seufzen geht durch
die Stille, als hörte man das Herz des Waldes schlagen.
Könnte es nicht doch sein, dass der Schleier zerriss nur für einen
Augenblick, der Schleier, der uns Menschen von der Welt, die uns umgibt,
scheidet, die wir doch fühlen, wenn wir einmal still geworden sind? Von
der Stille, die am liebsten von den nächtlichen Sternen herabstieg oder im
Walde auf uns niedersinkt, die unsern Vätern ein heiliger Ort war, wo die
Götter wohnten. Waren sie denn so töricht, diese Alten? - Ach warum
bist du so scheu geworden, du feines braunes Reh dort? Wie sind die Kinder der
Welt von einander getrennt und fern, wie einsam, wie sterneneinsam das Herz
darin; nicht Tier nicht Pflanze kennen dich, sie scheuen sich vor dir, und doch
treibt der gleiche rote, sanfte Strom seine Wellen durch dein Herz wie durch
das des Tieres dort. Und den Eichbaum, den vierhundertjährigen, der seine
vom Blitz in wilden Sturmesnächten gestreiften Arme wie Riesenschlangen
windet, den liebst du! Wie ein Freund ist er dir, den du von Kindheit gekannt
und mit scheuer Verwunderung an dunkeln Herbstabenden betrachtet hast, wenn du
hinter dem Vater drein gingst. Wenn er eines Morgens geborsten am Boden
läge, würdest du um ihn trauern wie um einen guten alten Freund. Aber
was weiß er von dir? Einsam geht der Mensch dahin zwischen dem, was um
ihn lebt und stirbt, sich freut im Mai und im Winter seine silbernen
Träume träumt.
Der Mann starrt auf den Weg und sein Ende, wo er sich in dem duftigen Schleier
der Birken wendet, als müsste etwas von dort kommen, gerufen von der
brennenden Sehnsucht, die die Einsamkeit gebiert; aber nur ein kleines Dirnlein
hastet dort vorbei, in einem alten brauen Schal eingewickelt, dessen Ende
hinten nachschleppt und allerlei Waldanhängsel, Dornen, gefrorene
Moosfetzen, nach sich zieht. Sehr eilig hat es die Kleine, und nun verschwindet
sie hinter den Haselsträuchern. Dort geht's aber auf eine dachgähe
Halde, und der einzige Pfad hinunter ist eine Eisbahn. Mit ein paar langen
Schritten ist er zwischen den Sträuchern.
"Halt! da kannst du nicht hinunter."
Ein Knacken, ein leiser Kinderschrei, der seltsam die Stille durchschneidet.
"Halt dich! Halt dich an einem Zweig, ich hol dich schon." Halb
schleifend, halb rutschend kommt er hinunter, und da liegt ein braunes
Häufchen. Und wie er mit der Hand an einem Zweige hängend nach ihr
greift, hebt sie ein kalkweißes, erschrockenes Gesicht.
"Da fass die Hand, ich tu dir doch nichts zuleid! Fürchte dich doch
nicht. Hast du dir weh getan?"
"Nein;" sehr kläglich, sehr erschrocken kommt's heraus.
"Nun, so gib die Hand!" Sie schüttelt.
"Wohin willst du?" Sie deutet mit dem eingewickelten Köpfchen
nach der andern Bergseite hin, wo der Wald steil in starrender Pracht wieder
ansteigt.
"Dort geht kein Weg. Woher kommst du?" Keine Antwort.
"Gehörst du nach Berklingen?"
"Nein."
"Nicht?" Und die Landessprache kennst du auch nicht, sonst
würdest du "Na" sagen."
Ein fremdes Kind also. Und verlaufen muss es sich haben. Denn im ganzen Wald
sind jetzt keine Holzfäller mehr; die haben heut schon Feierabend gemacht
und sind zu den kleinen spitzgiebeligen Häusern gegangen, wo die Kinder
schon warten, bis der Vater den Tannenbaum in das grüne
"Gärtlein" setzt. - "Hast du zu deinem Vater gewollt?"
Das Schütteln ist nun sehr energische Abwehr. "Also gewiss nicht zu
dem," brummt er. Nun lässt er den Zweig los, und mit einigem
Straucheln und Gleiten kommt er zu dem Nestchen, wo sich das Kind duckt, als
sähe es sich nach einer Fluchtgelegenheit um, und nicht los kann, weil das
eisige Dorngeranke der Brombeeren es festhält. Und nun macht sich's mit
einem Ruck los, dass die ganze Schleppe mit dem Waldanhängsel
abreißt. Aber da hat er sie auch schon erfasst, und so sehr sie sich
sträubt und flattert wie ein Vögelein, das man in der Hand hält,
so bringt er sie doch blass auf den Weg. Da greift er in seine Tasche und zieht
einen großen rotbackigen Apfel heraus und reicht den als Friedenspfand
mit einem guten Lachen hin.
"Da nimm und sage, wohin du willst, so zeig ich dir den Weg, du
wunderliches kleines Fetzenmadämchen."
Denn der braune Schal ist ziemlich übel aus den Dornen gekommen. Aber sie
will den Apfel nicht, und der wandert wieder in die Tasche zurück. Aber
der Apfel, oder vielleicht ein Blick in die blauen Augen müssten doch eine
Brücke geschlagen haben.
"Ei woher hast du den feinen Nasenrücken? Und was hat dein linkes
Beinchen getan, dass es frieren muss und nur das rechte eine Gamasche
hat?"
"Sie gingen nicht zu. Und es ist auch gar nicht kalt."
Es ist das erste Wort, und sie spricht allerdings nicht die Landessprache.
"Und wohin gehst du?"
"Nirgends hin!"
"So, nirgendshin. Da geh ich nämlich auch hin, dann haben wir einen
Weg."
Und er nickt ihr ermunternd zu, streckt die Hände in die Hosentaschen und
schlendert neben ihr her, behält sie aber vorsichtig im Auge, dass sie
nicht mehr entwischen kann. Und zögernd folgt sie ihm, als wäre es
doch gut, auf dem Weg zum Nirgendwohin-Land einen Gefährten zu haben, eine
kleine wunderliche Gestalt in dem zerfetzten Tuch; die Stiefel tragen bis oben
hinauf Spuren eisiger und lehmiger Wege; am rechten Bein eine falsch
zugeknöpfte Gamasche, am linken keine, dafür aber ein großes
Loch im Strumpf, durch das ein weißes Knie schimmert. Und wie er so neben
ihr hergeht, steigt ein deutlicher Armeleutegeruch aus dem Schal auf, ein
Geruch nach selten gelüfteten Stuben, auf dem Zimmerofen gekochtem
Sauerkraut und hundert andern unbestimmbaren Dingen. Aber der Nasenrücken
ist sehr fein geformt und fast stolz, die Augen lang mit breiten Lidern, die so
zart sind, dass, wenn sie die senkt, die Augensterne durchschimmern.
"Also durchgegangen bist du!"
Sie schreckt zusammen, und ja! steht so deutlich auf dem erhobenen Gesichtchen.
Da lacht er wieder sein gutes Lachen.
"Wenn die Leute ins Nirgendsland wollen, sind sie meistens von irgendwoher
gekommen, wo es ihnen nicht gefallen hat." "Und ich geh auch nicht
mehr zurück."
"So arg haben sie dir's gemacht?"
"Nein, nicht arg. Weißt du, das kann man nicht sagen."
So zutraulich ist sie nun schon geworden. Und eine Weile wandern sie
miteinander in dem verzauberten Wald, und er wartet mit dem feinen Gefühl
für Kinderseelen, das manche Menschen haben, die wissen, dass man durch
Fragen das Kind von seinem Gedankenpfädlein oft nur abirren macht, und
dass das Vertrauen am ehesten durch ein freundliches Zuwarten gewonnen wird.
Doch ihre Schritte werden immer zögernder und schleppender, und als da am
Weg ein Reisighaufen liegt, freilich auch in einem Eiskleid, so setzt sie sich
darauf und sagt sehr artig und mit der Feinheit eines gut erzogenen
Mägdleins:
"Ich danke sehr, ich bleibe hier."
"Müde?"
Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Steinhaufen und schlägt die
langen Beine übereinander: "Ist vielleicht nun der Apfel
gefällig, kleines Fräulein?"
In den Augen leuchtet's auf, und eine kleine Hand streckt sich zögernd aus
dem Fransengewirr nach dem Apfel aus, und ein feines Freudenrot steigt in ihre
Wangen. "Gut ist er."
Und nun erzählt sie. "Mir hat das Nähröschen einmal auch
einen geschenkt und ich habe ihn in mein Bett gesteckt und nachts gegessen, wie
alle fort waren. War das nicht lieb von dem Nähröschen? Es hat rote
Haare und wohnt in dem kleinen Haus, vor dem im Sommer die hohen roten
Blumensäulen stehen, und hat neun Geschwister, und wenn sie abends
heimkommt, macht sie denen noch alle Kleider."
"Ein trefflichen Nähröschen! Und wo ist das Häuschen, vor
dem im Sommer die Blumensäulen - das sind wohl Malven - stehen?"
"Zuerst kommt ein grünes Feld, darauf sind weiße Sterne und
gelbe Krönchen, wenn die Sonne freundlich ist, und dann kommt man an die
steilen Bäumen, die hinaufstarren und die seufzen."
"So wär's am besten, wir machten und jetzt auf die Beine und gingen
zu dem Nähröschen. Die hat gewiss noch einen Apfel, denn ich habe
keinen mehr. Und das ist ein kalter Sitz und das Stiefbein friert."
Aber sie schüttelt wieder. "Ich will hier bleiben. Ich bin ja sonst
den ganzen weiten Weg umsonst gegangen."
Und nun strahlt das volle süße Kindervertrauen aus den erhobenen,
sanften Augen. "Ich wollt auch nicht mehr zurück und will warten, bis
die Nacht kommt, und Hunger habe ich keinen mehr, weil du mir den Apfel gegeben
hast."
"Die Nacht willst du da bleiben und fürchtest dich nicht! Du hast
etwas Gutes vor. Weißt du denn nicht, dass die Leute wenn die große
Kälte kommt, einschlafen und nicht mehr aufwachen?"
"Ich wird schon nicht einschlafen. Ich warte ja! Sieh doch die Bäume
da am Weg und die weißen Schwertchen und die Krönchen und die
silbernen Fransen, und die Perlenschnüre und die Bänder! Warum haben
die sich so angezogen? Die warten alle, und dass etwas kommt, das wissen die
ganz gut. Und vorher ging ein Reh vorbei, das sah mich an und wusste es
auch."
"Das fühlst du auch, du? Du kleines Seelchen! Wie heißt du
denn?"
"Ich habe viele Namen, aber keiner ist der rechte. Und bei Nacht kommt
mir, ich wisse den rechten, und am Morgen habe ich ihn wieder vergessen!
"Arme Kleine," sagt mein Vater zu mir. Aber so will ich nicht
heißen. Und ich bin fort gegangen; dass es aber der rechte Weihnachtswald
ist, habe ich erst gesehen, wie ich drin war."
Da beugt er sich vor und hebt das Geschöpflein trotz dem strengen Duft des
Tuchs auf seine Knie und schlägt seine Lodenjacke um das eine kalte Bein
mit dem großen Loch im Strumpf. Nun fürchtet sie sich gar nicht mehr
und nestelt an seinen braunen Hirschhornknöpfen herum.
"Weißt du, das mit dem Christkind, das die schönen Sachen
bringt, das ist alles erlogen. Es steht alles im Katalog. Puppen und Wagen und
Soldaten und alles. Und wenn ein rechtes Christkind wäre, so wüsst
es, dass ich keine neuen Puppen will, die gar nichts von mir wissen und mich
nicht kennen."
"Die alten kennen dich wohl?"
"Wenn ich sie doch abends immer ins Bett lege und nie auf einem Stuhl
lasse! Aber vor Weihnachten gehen immer die alten Puppen fort, und es bekommen
sie die bösen Kinder, und seh ich sie dann wieder, dann haben sie
schmutzige Kleider, und die Lilla, die mit den schönen Locken, die hatte
nur noch ein Auge und der Arm hing ihr herunter. Und nun spiel ich nicht mehr
mit Puppen."
"So verekelt haben sie dir's, armes Seelchen!"
Aber sie muss weiter an ihrem Faden spinnen. "Und das rechte Christkind,
das weiß, was einen freut, das kommt doch nicht zu mir. Deshalb bin ich
herausgekommen. Hör, wie der Baum seufzt. Und wenn's ein Christkind gibt,
so muss es hierher kommen. Und wenn man einschläft und muss nie mehr
zurück und sich auslachen lassen, weil man so ein Dummes ist und die
rechten Worte immer nicht sagen kann, die alle andern Kinder gleich wissen und
es käme das Christkind vorbei, und läutete so fein mit seinen
Glöckchen . . . Hörst du's nicht? Seit ich im Wald bin, hör
ich's und bin ihm nachgegangen, so weit, so weit, dass ich gar nicht mehr
zurück kann, weil es viel zu weit ist. Und wenn ich einschliefe, so
käme meine Mutter heraus und holte mich, die liegt in einem silbernen Sarg
und hat mein kleines Brüderlein im Arm. Und ich wollt schon bei ihr in dem
silbernen Sarg bleiben. Da könnten die lachen; ich hörte nichts mehr,
denn es ist eine dicke eiserne Tür über dem silbernen Sarg und ein
Siegel darauf, und kein Mensch darf herein."
"Und das Lachen, das tut dem armen Seelchen so weh, wenn es die rechten
Worte nicht findet?"
"Weißt du das denn nicht? Dich lachen sie doch auch alle aus!"
"Mich! Ja kennst du mich denn?"
"Du bist der Ruinengraf. Und warum gibst du den Mäusen, den netten
kleinen, die sich hinsetzen können wie rechte Leute, und aus den
Händchen essen, warum gibst du denen nichts? Mir hast du doch gleich den
Apfel gegeben?"
"So - den Ruinengrafen nennen sie mich! Nicht übel, es ist immer gut,
wenn man seinen Namen weiß," brummte er. "Den Ruinengrafen! Und
was für wunderbare Dinge du weißt! In einem silbernen Sarg liegt
deine Mutter, du Armes! Und wohin gehörst du nun? Und warum geb ich den
Mäusen nichts?"
"Ich höre manchmal, was sie in der Nähstube reden, die geht in
den Lindenbaum, und da hab ich eine Treppe hinauf. Und die Margarete, die dick
ist und wie ein Herr ein kleines Bärtchen hat, sagt, es wäre eine
Schande, dass du in dem Geklüft wohntest, und du wärest so arm, dass
die Mäuse mit verweinten Augen einem entgegenliefen, wenn man an deine
Mauer käme."
Nun lacht er laut auf, erschütternd und gewaltig dröhnt es aus der
mächtigen Brust auf, ein urgermanischer Ton ist das in der verzauberten
Waldstille. Das Seelchen erschrickt fast; dann läutet plötzlich ihr
kleines klingendes Lachen, wie wenn ein Vogel mit seinem Flügel eine
Harfensaite berührte, dass die ein weniges klänge.
"Nein, die haben's zu arg gemacht - und auf die Mäuse will ich
achten, dass sie ihr anständiges Futter kriegen."
"Ich hab dich dann gesehen, wie du mit deinem Knecht gegangen bist, der
aussieht wie der Kaliban in dem roten Buch, und du hast mir so leid getan, weil
du so arm bist und so groß wie kein anderer, und nicht einmal die kleinen
Mäuse bei dir satt kriegen. Aber nun ist's nicht wahr! Die lügen
oft."
Wohin mag doch das vermummte Kind gehören, dessen Mutter in dem silbernen
Sarg liegt? Nicht in das kleine Städtchen, so weit her kann sie nicht
gekommen sein. Ihr Deutsch klingt fremdartig und zuweilen ein wenig stockend,
als ob es nicht die Sprache sei, die sie immer spreche. Welch eine Woge des
Schicksals mochte das arme Seelchen in das Waldland verschlagen haben? Die
Waldleute sind ein wanderlustiges Volk. Kein Haus in dem uralten, noch
umwallten Städtchen oder in den heimeligen Dörfern, das nicht ein
Glied über See hätte. Sie haben dann allerhand Schicksale, diese
Waldleute, kommen zu Geld und Ehre und verlieren auch beides wieder. Aber sie
sieht nicht nach dem Menschenschlag aus. Er könnte es jetzt wohl aus ihr
herauspressen, wohin sie gehört, aber es ist gar zu schön, in dem
verzauberten Wald auf das feine Märchenstimmchen zu hören. Und er
sollte doch die feinen Linien kennen, diese langen Lider, es ist wie ein
Rätsel, das sich ihm jeden Augenblick lösen kann. Und er wird sie ja
sicher nach Hause bringen. Vielleicht tut's den Ihrigen, die so wenig das arme
Herz kennen, gut, wenn sie sich ein kleines absorgen. Und über dem keimt
in seinem Herzen eine ferne, schwache Hoffnung auf. Vielleicht ist's ein armes
Verlassenes unter Fremden, denen nichts an dem Seelchen liegt.. Aber gleich
schilt er sich einen Träumer. Kinder, die unter allen Umständen an
Weihnachten einen neuen Puppensegen - "aus dem Katalog" - über
sich ergehen lassen müssen, gehören nicht armen Leuten. Da legt sie
ihr eingewickeltes Köpfchen an seine Brust: müde ist sie und so froh,
als ob ihr das Reden von ihrem Leid schon einen Stein vom Herzen genommen
hätte. So geborgen, als schließe der weiße Ring der Bäume
in ihrem feierlichen Schweigen sie ein und beschlösse sie für immer
und immer, und vielleicht kommt das Christkind doch.
Und es fängt der zartgraue Himmel an, sich hinter dem zierlichen Gitter
der Zweige, die so dicht und heimlich stehen, und von denen ein so weißes
Licht herabkommt, sacht zu färben. Ein blasses Rosa zuerst. Und wie stehen
sie nun gegen den Rosenteppich da, die Äste und Zweige, und das ganze
Netzwerk von Kristall und weißem Flaum! Und immer röter und
herrlicher wird die Purpurwand, und wunderbare blaue, violette und graue
Töne steigen aus dem Weiß auf. Lautlos sehen die beiden in die
himmlische Herrlichkeit. Und das Seelchen hält fast den Atem an, denn nun
muss es kommen. Woher, weiß es auch. Dort, wo der Weg sich wendet, gerade
in die Glut hinein, da hat die schwere Silberlast ein Buchenstämmchen
herabgezogen, dass es im Bogen über den Weg hängt. Da durch muss es
kommen. O wie der unauslöschliche Kinderglaube aus den grauen Augen
leuchtet! Kommt nicht auch das Klingen immer näher? Das braune Tuch ist
bedeckt mit Silbersternchen, dass es wohl Aschenbrödels Kleid von der
Mutter Grab her sein könnte. Ihre Pupillen weiten sich, dass die graue
Iris nur einen schmalen Streifen um die Schwärze bildet, sie gleitet
herunter, sie fasst ihn an der Hand und zieht ihn mit sich fort. Da unter den
herabhängenden Tannen tief unten ein goldenes Feuer, ein Bogen, wie ein
ungeheures, loderndes Flammentor. Die Himmelstür! Weit offen steht sie
gerade auf sie zu führt die gotische Silberhalle, die herrlichste
Prachtstraße der Welt. Nun ist's offenbar, darauf haben sie gewartet, die
Bäume, die Kräutlein im Silberkranz, das Reh, der Vogel, der immer
vorausflog mit dem roten Käpplein. Fest aneinander geschmiegt stehen sie,
das Kind legt seine Ärmchen um den herabhängenden Arm des Mannes. Und
ein feines goldnes Band schlingt sich von dem einen der zwei Herzen zum andern,
ein Band, gewoben aus jenem Gold des Himmelstors. Und über seine Hand, an
die sich das Kinderköpfchen schmiegt, fällt plötzlich ein
weiches, sanftes Gewoge. Er wendet seine halbgeblendeten Augen, die noch in
feurigen Ringen überall das Bild des goldenen Tores hinwerfen, nach ihr.
Das Tuch ist abgefallen und um das erhobene, von seliger Erwartung und scheuem
entzücken erleuchteten Angesicht wallt eine Flut von blassgoldenen Haaren.
Und einer der feurigen Ringe legt sich um das Köpfchen, dass es davon
umgeben wird und sein Herz ein leiser Schauer trifft, als berühre es der
Himmlischen einer. Dann versinkt das Tor, noch ein letztes Gluten am Himmel,
das den Wald mit tausend und tausend Rosen behängt - und nun steigen graue
Schatten auf; wie Gespenster werden die Bäume; der Eichbaum dort, windet
er nicht seine Schlangenarme? Die Stunde, die einzige, ist vorüber.
Und doch nicht vorüber, denn das Mägdlein, das mit seiner
blassgoldenen Mähne aussieht wie ein aus seiner braunen Hülle
geschlüpfter Schmetterling, sagt mit seinem hohen feierlichen
Silberstimmchen: "O, bist du nicht froh, dass doch alles wahr ist! Und
dass wir das Christkind gesehen haben!"
"Hast du's gesehen?" fragt er fast scheu.
"Sein Tor hab ich gesehen und seinen Himmel, und nachher hingen
überall rote Kränze. Die haben die Engel heruntergeworfen. Hast du
die Rosenkränze, die so brannten und so schön waren, nicht gesehen?
Sie hingen doch auf den Bäumen, und der Strauch dort hat sieben goldenen
Kronen gehabt."
"Ich sah sie, und du hattest auch ein Krönlein, Seelchen."
"Ich hatte auch eins! Hab ich's immer noch?"
"Nun ist's vergangen."
"Sieh, wie die Bäume nun grau werden und sich einwickeln in lauter
Schleier, weil sie nun schlafen wollen. Und ich bin so müd. Ich muss
weinen, ich bin ganz müd. Du, ich hab mich überfreut!"
"Überfreut hast du dich?"
"Weißt du, wenn man so starke Freude hat, das tut doch weh."
"Seelchen, komm, wir müssen eilen, ich trage dich."
Er reißt sich das Lodenwams herunter, dass er in seinen weißen
Hemdsärmeln dasteht, und wickelt sie darin ein und nimmt sie auf seine
starken Arme.
"Kannst du denn kein kleines Mädchen in deiner Ruine brauchen, ich
esse nicht viel. Du musst aber niemand herein lassen, dass man mich nicht
sieht. Denn sonst holen sie mich. Weil die mich haben müssen, wenn ich
auch nur ein Mädchen bin und es ein Jammer ist, dass die Mutter nicht mich
mitgenommen hat und das Brüderlein leben geblieben ist."
"Die müssen dich haben!" Er schaut auf das weiße
Gesichtchen, das in seinem Goldgewoge auf seiner Schulter liegt. - Die feinen
Linien der Nase, die ein wenig zu großen Augen: das Rassegesicht - der
Braunecker. -
"Prinzessin! Ja, um Gottes willen! Wie lang sind Sie schon fort! Ja, sucht
denn kein Mensch nach Ihnen?"
"Ja, warum sagst du denn nun Sie. - Dann muss ich's auch sagen. Ich hab
kein Du, kein einziges Du, wenn Vater fort ist." Armes Prinzesschen, armes
einsames Seelchen, das er nun in seinen Käfig zurückbringen muss. so
vertrauensvoll schlingt sich das Ärmchen um seinen Hals, während er
mit langen Schritten dahineilt. Wohl wusste er, dass in dem alten Schloss, das
mit seinen dicken Türmen in das lieblichste Tal hinab sieht, das einzige
Töchterlein des Fürsten wohnt, der nur zu den hohen Festen und den
Jagden nach seinem alten Stammsitz zurückkehrt. Aber es war von dem Kinde
immer nur mit einem gewissen Achselzucken die Rede gewesen, so dass er sich ein
vielleicht schwachsinniges Geschöpf vorgestellt hatte, das in seinem armen
Dasein die bitterste Enttäuschung des alten Hauses sei. Die Fürstin
und zwei Söhnlein, ein dreijähriges und ein wenige Tage altes, waren
vor zehn Jahren innerhalb einer Woche an einer schweren Diphtherie gestorben.
Geheiratet hatte der Fürst bis jetzt nicht wieder, und doch würde es
sein müssen, denn der alte Stamm stand nur auf seinen zwei Augen. Aber
warum wimmelt jetzt der Wald nicht von Jägern und Hunden, warum
ertönen die Sturmglocken aus den Dorfkirchen nicht, wie man es immer tut,
wenn irgend ein Kind, das vielleicht seinem Vater das Essen in den Schlag
gebracht hat, nicht zurückgekehrt ist. Seelchen, warum suchen sie denn
nicht! Drei Stunden weit ist sie freilich gegangen, und das mochte ihr niemand
zugetraut haben. Und mit Schrecken dachte er, wie es wohl gekommen wäre,
wenn es ihn nicht in den Wald gezogen hätte heute, ob nicht sein einsames
Herz von der Herrlichkeit da draußen so erfüllt werden könne,
dass es den bitteren Hunger nach einer einzigen menschlichen Seele
vergäße.
"Schläfst du, Seelchen?"
"Nein, es ist so schön, weil du mich trägst, und du bringst mich
doch zu deiner Ruine! Wie das Schneewittchen über den sieben Bergen. Du
bist freilich kein Zwerg, sondern schier ein Riese, und du kannst auf alle
heruntergucken, und so lang will ich auch wachsen. Und stark bist du und
brauchst dich im Dunkeln nicht zu fürchten."
"Vielleicht fürcht ich mich doch."
"Jetzt?"
"Nein, jetzt nicht. Aber soll dein Vater kein Kind mehr haben?"
"Du hast auch keins."
"Jedes Kind bleibt bei seinem Vater."
"So muss ich zurück! O sag's nicht. Ich will nicht. Ich bleibe da,
und wenn auch die Bäume noch so schrecklich sind in ihren weißen
Tüchern. So sind gewiss tote Leute, so steif und mit weißen
Tüchern. O das träumt mir, das träumt mir. Aber ich bleibe hier.
Nun haben sie alle einen Zorn und alle reden zugleich, und ihre Stimmen
sägen und ich darf meine Ohren nicht zuhalten. Und das Tuch hab ich ganz
zerfetzt."
"Wie du reden kannst, Seelchen, und du meinst, du habest die rechten Worte
nicht! Warum sagst du das nicht deinem Vater, deinem lieben Vater!"
"Wann denn? Ich muss immer so artig sein, wenn er da ist. Und das musst du
doch wissen, dass es nicht artig ist, wenn man sich über Miss Whart
verjammert."
"Seelchen, dein Deutsch ist wunderbar, ganz dein eigen. Und du sprichst
wohl englisch mit der einen und französisch mit der anderen?"
"Mademoiselle ist nach Anvers in die Ferien, und Miss Whart hat
Migräne, und Fräulein Braun - aber das ist ein großes
Geheimnis, ich sag dir's nur, weil du's nicht weitertratschest, - sie ist zu
Karl gegangen."
"So, zu Karl."
"Der heiratet sie gewiss einmal, und dann kauft sie sich ein
Plüschsofa. Dass sie sich nicht schämen muss, wenn die andern Frauen
bei ihr Visite machen. Und das muss jeder anständige Mensch haben."
Aber sie erschrickt in tiefster Seele, denn er hat gewiss kein Plüschsofa.
Und es könnte ihm wehgetan haben. Und sie küsst ihn schnell auf sein
Ohr, das ist am nächsten und ist auch nicht so bärtig. "Ich
meine nur Frauen, weißt du."
"Lass das, Seelchen," sagt er fast streng, "und sag, wie du fort
gekommen bist: sie wird dich doch nicht zu dem Karl genommen haben."
Ach, nun hat er es doch übel genommen und er hat sicher kein
Plüschsofa.
"Nein," erzählt sie ganz verschüchtert weiter, "die
Babett sollte mit mir spielen, aber zu der kam ihre Mutter, die wohnt weit weg,
und die weinte und erzählte viel, es kam eine Kuh und ein Jude darin vor.
Wie die Leute reden, das versteh ich nicht so recht. Und darf's auch nicht
lernen, sagt Fräulein Braun: Es ist gemein."
Es klingt, wie wenn etwas brummte, - wie "dumme Gans!" klingt's.
"Nun weiter!"
"Da ging die Babett und wollte der Mutter etwas bringen, das in einem
Buche ist, wo man Geld dafür bekommt, und es war eine große Freude
dabei. Für die Mutter, nicht für die Babett. Und die Mutter ging und
ihr Tuch ließ sie da. Und da war's, wie wenn mich etwas packte und nach
dem Tuch hinzöge. Und da wickelte ich mich darin ein, wie's die
Waschfrauen machen, wenn sie im Regen kommen. Eine Gamasche hab ich nur
angebracht, dann hab ich Angst bekommen und bin schnell die Dienertreppe
hinunter. Und es begegnete mir niemand. Dann bin ich durch den Park gegangen,
und ein Gärtner hat mir "Vogelscheuche" nachgerufen, dann kam
ich ans Wach. Es war aber keine Brücke da, so bin ich übers Eis
gegangen." "Über das Wach gegangen!"
"Es war ganz schön. Das Wasser lief unten, und es gluckste, und es
lachte einer heimlich da unten, und ein Fisch schoss vorbei, und ein
großes Loch war auch da, um das ging ich herum . . . "
So, nun weiß er, warum niemand hier suchten geht. Das Wach ist nur ganz
dünn gefroren und hat Stellen, an denen unterirdische Quellen aus dem
Boden kommen, wo auch im härtesten Winter das Eis nicht trägt. Und er
möchte an einen Engel glauben können, der das Kind auf dem Todespfad
geleitet hat. Und er sieht im Geist das Flüsschen zwischen seinem Wald und
den Wiesenufern, unter der trügerischen Eisdecke, und die vielen
Männer, die jetzt mit Fackeln und Stangen nach einem kleinen, halb
erstarrten Körper suchen. Und der Fürst muss heute Abend kommen. Mit
dem Achtuhrzug. Und die müssen ihn mit der schrecklichen Nachricht
empfangen. Und der Mann, der schon so viel verloren hat, was muss er leiden an
diesem fürchterlichen heiligen Abend. Mit seinen längsten Schritten
eilt er dahin. Aber es ist eine Stunde in der Nebelnacht bis zu seiner Ruine,
von der aus er erst Nachricht geben kann. Das zarte Kind muss bald unter ein
Obdach kommen. Und dem Fürsten wird es auch so lieber sein, als wenn er
seine Tochter aus einer Bauernstube abholen muss. Der Pfarrherr ist unbeweibt,
wunderlich und menschenscheu, studiert jetzt seine Predigt, wird gar nicht
wissen, was er mit dem hereingeschneiten Gast tun soll. Und der Nebel
schließt sie immer dichter ein. Kennt er nicht jeden Schritt hier, so
wäre es schlimm bestellt ums Heimkommen. Und er macht sich bittere
Vorwürfe, dass er nicht gleich geeilt hatte.
Aber das Kind will jetzt von ihm wissen, so viel, so viel. Mit dem sicheren
Instinkt der Kinder hat sie herausgefühlt, dass sie einen Freund gefunden
hat.
"Warum wohnst du in einer Ruine, warum bist du so arm? Bist du auch das
Christkind suchen gegangen?"
Und im Weiterschreiten erzählt er von sich. Erst zögernd, denn er ist
es fast ungewohnt, von sich zu reden, dann mehr für sich selbst, wie es
sehr einsame Menschen tun, wenn sie einmal ihr Herz öffnen. Von dem
großen Brande, der in einer Nacht das alte Schloss, welches sein Vater an
einen reichen, jagdlustigen Herrn vermietet hatte, zerstört hat.
Wie sein Vater und er Offizier waren; beide in demselben Regiment. Und wie der
alte Oberst es nie verwinden konnte und sich schwere Vorwürfe machte, dass
er das Schloss vermietet, um seinen Sohn das Dienen in Berlin möglich zu
machen. Und wie sie es beide nicht übers Herz bringen konnten, die
Trümmerstätte, die die Heimat so vieler ihres Blutes gewesen war,
wieder zu sehen. Und wie der Vater starb und er so allein war und in kleinen
nordischen Grenzstädtchen stand, wo die Wolken tief herabhängen und
die Walnüsse bereits Südfrüchte geworden sind. Und wie er malte.
Zuerst die grauen Wolkenzüge über den nordischen Ebenen und dann, aus
der Erinnerung, das Bild des verlorenen Vaterhauses. Und wie alles, was nicht
Farben und Malleinwand war, immer mehr ein bitteres Elend wurde und Verbannung
und ein nagendes Heimweh nach dem Waldland. Das Heimweh, das sie Seele mit
grauen Fäden bespinnt und zusammendrückt und von dem nur reden kann,
wer es einmal gekannt. Das Heimweh, das nach jedem Stein der Heimat schreit,
das da nach den fremden Wänden schlagen möchte. Das immer wieder dem
Herzen die trauten Bilder vorhält. Wie es war, als die Halde im
bittersüßen Duft der Schlehen lag, am ersten heißen Apriltag.
Wie der Schlossbrunnen rauschte, in dem sich zuweilen Vogelgetön und die
Sonntagsmundharmonika des Stallburschen verfing, dass es an seiner Steinschale
ein wunderliches Echo fand, dass es gewiss auf der ganzen Welt keine solchen
singenden Brunnen mehr gab. Wie die Abendsonne auf dem alten Gemäuer lag
und aus den Fenstern so viel goldene Augen machte, die ins Waldland
hinausblickten. Bis das Bild aus Ton und Farbe und Duft gewoben vor dem Auge
steht, dass Kasernenhofmauern und die grauen Ebenen und die Sturmwolken oder
die mitleidlose sonne an den klarkalten Tagen, die alle Linien starr macht und
so unbarmherzig die bittere Kahlheit zeigt, nicht mehr zu ertragen sind. Und
wie er plötzlich dort Schluss gemacht. Weil - nein, das sagt er dem Kinde
nicht, dass da ein kleiner Revolver lag und nur die Hand eines treuen Burschen
den Punkt unter der Geschichte verhinderte. Und wie er nach Berlin auf die
Akademie ging und malte.
Von was er lebte, konnte er schier selbst nicht sagen. Von dem Ertrag seiner
Jagd, die er an den Fürsten verpachtet hatte; von dem, was sein Wald
zuweilen abwarf, und (wenn das sein Vater noch hätte wissen können!)
vom Tapetenzeichnen. Und wie ihm keine Bitterkeit des Deklassierten erspart
war. Und wie seine Länge, "der Herr Graf", der "Leutnant
a.D." und die Härten seiner so ganz allein erworbenen Malweise alle
schlechten Witze der enghaarigen Kunstgenossen entfesselten. Wie die nicht Ruhe
gaben, bis er einen der windigsten und frechsten Gesellen am Kragen packte und
mit ausgerecktem Arm zum Fenster hinaushielt in den Regen, wie der sich auch
wand und krümmte. Und das Wohnen in billigen, entlegenen Quartieren, und
die ungeheure fürchterliche Einsamkeit, die nirgends qualvoller und
entsetzlicher sich aufs Herz legt in einer Millionenstadt.
Schon längst hat er vergessen, dass ihm jemand zuhört. Das Kind ist
wohl eingeschlafen, es rührt sich nicht mehr. Aber das ist ein Irrtum. Das
Kind ist hellwach und nimmt jedes Wort in sein feines Herz auf, wo alles
unvergessen liegen und, wenn die Stunde kommt, wieder heraufsteigen wird zu
jedermanns Verwunderung. Und das phantastische Köpfchen dichtet Bilder
dazu, himmelweit entfernt von der Wirklichkeit, aber doch wahrhaftig, mit der
innern Wahrheit der Dinge.
Und die Kunst ist eine strenge Herrin, und nur selten noch wird ihm die
Seligkeit des Gelingens geschenkt. Und wie an einem stickigen Sommerabend, als
aus dem Hinterhof die Luft wie ein glühender Brodem voll unguter
Düfte heraufstieg, keifende Weiberstimmen, grölender Gesang, das
jämmerliche Weinen eines verlassenen Kindes die Musik dazu gemacht, und es
über ihn kam mit Riesengewalt. nur noch einmal den duft des Heus einatmen,
wie es der Abendwind auf weichen Schwingen aus dem Tal heraufbringt, nach dem
Schlossberg. "Ja, bin ich denn hier angeschmiedet, ist das noch
Menschentum oder ist's ein Höllenkäfig, in dem wir da
zusammengesperrt sind?" In der Nacht noch, nur mit dem, was er gerade
hatte, ist er davongegangen. Von Würzburg an reist er wie ein
Handwerksbursche. Und wie er davon spricht, ist's nicht viel anders, als es
wohl seine Vorfahren, die mit Kaiser Friedrich in der Wüstenglut hungerten
und brieten, oder mit den Niederländern in den spanischen
Befreiungskriegen im überschwemmten Land halb wie die Frösche lebten,
den aufhorchenden Frauen und Kindern am heimatlichen Herde erzählt haben
mochten.
"Und nun das Glück. An einem Regentag komm ich heim; er tropft mir
von den Bäumen auf den Kopf und es rauscht und gluckst, und die alten
Wolkenfrauen ziehen ihre Schleppen über das Wiesental. Und wie die Linden
duften! Es war mir lieb, dass ein Regenschleier die leere Stelle ein wenig
verhüllte, wo ehemals das steile dunkle Dach zwischen den Bäumen
stand. Es war Abend geworden, und ich dachte: jetzt steigst du doch ein wenig
auf dem Schutt umher, dass es dir am Morgen nicht mehr so schrecklich ist. Ich
hole mir die Schlüssel beim Förster, denn die Tore stehen ja noch.
Der hat eine große Freude und tut mächtig geheimnisvoll. Es knarrt
das alte Tor mit dem Ton, den ich so oft im Traum gehört, es ist ganz wie
ehemals. Einen Augenblick muss ich noch die Augen zumachen und die Zähne
zusammenbeißen vor dem, was kommt, denn jetzt müsste dort die
Palastwand aufsteigen, die beiden Hunde hervorstürzen, ich müsste des
Vaters Stock hören. Aber wie ich aufschaue, ist's doch wieder ganz anders
als ich gedacht. Der Wlad hat schon wieder ein wenig Besitz genommen, dort an
der Mauerwand rauscht noch unversehrt der Brunnen, ein später Amselschlag
hat sich darin verfangen, und er klingt und klingt. Ein wilder Rosenstrauch
hängt über dem Brunnen, und eine der Linden lebt auch noch, ohne
Krone zwar, an einer Seite kahl, aber die andere hat die treue, gute mit
tausend gelben Büschlein behängt. Und es riecht nach Heimat. Der
Förster führt mich durch einen Steinwall den er selbst geschichtet
hat, zu einer Stelle, wo herabgestürzte, halb verkohlte Balken ein Dach
gebildet haben. Eine rohe Bretterwand, dahinter eine Tür. Die Hoffstube
tut sich auf. dort saßen in früheren Zeiten die Knechte, und der
ganze große und hohe Raum mit seinen vier tiefen Fensternischen ist
unversehrt. die Fenster verdeckt freilich der Schuttberg. Damals jetzt nicht
mehr. Der grüne Kachelofen steht noch da, der Tisch, die langen
Bänke, altes Zinnwerk. Daneben ist noch eine Kammer, wo in früheren
Zeiten der Knecht, der die Feuerwache hatte, sich aufhielt. Und da stand noch
ein uraltes Bett und ein grünglasiges Waschbecken. Davon habe ich zuerst
Besitz ergriffen, habe mir das am singenden Brunnen gefüllt und mit seinem
Wasser mir viel, sehr viel vom Herzen gespült. Und obgleich der
Förster, der dies alles im letzten Winter, als er einer Fuchsspur
nachging, entdeckt und geheim gehalten hatte, es nicht dulden will, so bin ich
die Nacht dageblieben."
"O, ich will den singenden Brunnen hören. Nimm mich mit zu dir."
"Ja, hast du denn das alles gehört, Seelchen, nun, dann hör auch
auf mein Geheimnis. Ich dachte, du schliefest. Wenn es die Leute hörten,
wie würden sie über den verrückten Ruinengrafen lachen. In der
ersten Nacht schon, wie ich da auf dem alten Knechtsbett lag, habe ich's
gewusst. Wer eine solche Heimat hat wie ich, die so vielen lebendigen Herzen
einst das Höchste war, um die sie geblutet haben in vielen Schlachten sie
sich zur letzten Ruhe legten, der darf sie nicht verlassen, ihr nicht untreu
werden, muss an seinem Teil und so gut er kann, sorgen, dass die, die nach ihm
kommen, das köstliche Gut bekommen, das ihm die Alten hinterlassen. Der
Thorsteiner, der vor achthundert Jahren mit seinen Bauern die Steine zu dem
festen Haus zusammentrug, hat es auch hart gehabt. Vielleicht nicht so hart wie
der letzte, der da auf dem Knechtsschragen liegt. Vielleicht. Und wenn er jetzt
da hereinschritte, durch die Türe, mit seinem harten braunen Gesicht unter
der eisernen Sturmhaube, möchte ich mich nicht unter seinem Blick winden
müssen. Und darum ist mir nicht eine Stunde wohl geworden in meiner Haut,
von da an, wo ich wusste, dass die Dohlen und Turmkrähen über ihren
zerstörten Nestern herumflattern. Sie haben nach mir verlangt, die
Väter, und mir keine Ruhe gelassen, und sind hinter mir drein auf der
Ebene geritten, wo die Wolken so tief herabhängen. Und wenn ich zwischen
den Vorortbahnen und ihren hundert Lichtern und dem Menschengewühl der
armen Heimatlosen im Berliner Norden herumstieg, haben sie an mein Herz
gestoßen, dass es mir klar wurde, warum die so ruhelos sind, so
verbittert, so unstet, so pflichtlos oft. Weil das deutsche Herz nach einer
Heimat schreit. Hat es keine mehr, an der noch die Sitten, die Taten, die
Leiden der Alten hängen, so muss es suchen gehen und wird unruhig und
füllt sich mit allerhand, was es hin und her reißt und nimmer satt
werden lässt.
Und ich baue sie wieder auf meine Heimat. Manchen Kampf darob habe ich mit dem
alten Herrn gehabt. Denn zuerst da sollte es wieder werden, wie es gewesen ist
mit seinem Turm und Wall und Ecken und Winkeln. Aber der alte Herr unter seinem
eisernen Sturmdach lacht mich grimmig aus. Von der Million, die ich dazu
brauche, und ob ich die mit Tapetenzeichnen zu verdienen gedenke, redet er
nicht. Brauchst du denn eine Festung? Bilde dir nicht ein, dass du
könntest mit allen Rissen und Plänen, die du machen magst, - was wir
konnten. Wir bauten, weil wir nicht anders konnten. Und gegen wen willst du in
deinen Wällen Geschütz auffahren? Gegen die Hollacher? Da versank der
schöne Traum, und ich habe ihm auf meinem Schragen wie ein Bub nachheulen
müssen. So wird's nun eben ein festes gutes Haus. Und wenn ich mich darum
mein Lebtag nicht besser betten kann als auf dem Knechtsschragen. Und zuerst
habe ich mit meinen zwei Händen angefangen und dabei das Berliner Elend
hinausgeschwitzt. Der erste Herr von Thorstein wird auch seine Schultern
angestemmt haben, wenn ein gar zu schwerer Stein das letzte Eck am Schlossberg
heraufkam. Woher wären denn die meinen so breit? Und heutzutage, wo die
Kinder schon mit dem Rundreisebillett im Steckkissen ankommen, muss es auch
noch Leute geben, die wissen, wo sie hingehören und für was sie leben
und vielleicht sterben müssen."
"Aber du baust dein Dach wieder dorthin, wo der Himmel so leer ist
zwischen den Bäumen, dass du wieder hinsehen magst," flüstert
ein halbträumendes Stimmchen.
Er erschreckt fast, so gut hat sie aufgemerkt. Nun, bis morgen wird sie alles
vergessen haben.
Und jetzt blinkt plötzlich ein goldenes Licht durch das weiße
Gegitter eines Holunders. Der lange Thorsteiner klopft an einen Fensterladen,
ein Frauenkopf fährt heraus. Von ihrer ungeheuren Nachricht ist die gute
so bedrängt, dass sie es sofort, ehe sie noch weiß, was er will,
weitergeben muss.
"Wissens Sie's schon, Herr Graf, drüben die Prinzessin, das Arme, das
nicht so recht im Kopf ist, ist ertrunken im Wach. Seit vier Uhr suchen sie's
mit Stangen und Fackeln."
"Unsinn, Frau Scheiterlein, schnell packen Sie Peterles Strümpfe und
Sonntagsschuhe in einen Korb und kommen Sie zu mir, aber schnell."
Und schon ist er mit seinen langen Schritten weiter. Wieder eine Reihe hoher
Bäume, dann eine Mauer. Und nun kommt's. Dem Kinde, das sich vor der
Stimme der Frau ganz in seine Hülle verkrochen hat, klopft das Herz. Denn
nun kracht und brummt und stöhnt das Tor.
"Der singende Brunnen, du!"
Aber der schläft. Durch graues Gestein, ein Lichtlein schimmert, ein hoher
großer Raum tut sich auf, aus dem eine wohlige Wärme und ein
köstlicher Duft ihnen entgegenschlägt. Ein herrlicher, großer
Tannenbaum auf einem Aufbau von Moos und Steinen, und darunter etwas
Wunderbares, das das Kinderherz höher schlagen macht.
Nun lässt er sie herunter gleiten. Ein langer Kaliban steht vor seinem
Herrn, den er ansieht wie ein treuer Hund, der jede Bewegung vorauszuberechnen
scheint. Zwei Schriftstücke bedeckt der Haus- und Schlossherr mit langen,
eiligen Zügen.
"Wenn du's gewinnen kannst vor acht Uhr, Märt!"
Und mit eiligen Schritten verschwindet der Bursche und lässt gerade noch
die Frau Scheiterlein mit Peterles Strümpfen ein. "Nun, Frau
Scheiterlein, wie fühlt Sie sich als dame d'honneur?"
Die Frau machte eine wilde Armbewegung, und mit einem Schwall von ihm
unverständlichen Worten wird das Kind in den Salon geleitet, der in einer
der vier Fensternischen bequem Platz hat, wo sie mit vielem Protest zwar - weil
sie voll Stacheln seien - Peterles Strümpfe anziehen muss, während er
im Nebenraum seine Toilette macht. Sie wird nicht eleganter dadurch. Peterles
Schuhe erweisen sich als zu drückend und werden unnötig empfunden.
Peterles Strümpfe stehen von selbst. Und nun erhebt sich die schwierige
Frage: "Frau Scheiterlein, was können sie kochen?"
Ein Zündhölzchen flammt und unter einer Teemaschine hüpft ein
blaues Flämmchen. Frau Scheiterlein kann vielerlei kochen, Pfannkuchen,
Eierschmarren; aber sie empfiehlt einen guten, festen Kindlesbrei als in allen
schwierigen Lebenslagen das Beste für hoch und nieder. Bei hoch macht sie
einen kleinen Knix. Dann geht sie ab, und man hört bald draußen ein
Feuer knistern.
Aus dem braunen Tuch, das zum Verlüften hinausbefördert wird, hat
sich ein sehr, sehr schmächtiges Mägdlein in einem blausamtenen
Hänger mit altem Spitzwerk am feinen Hälschen geschält. Aber es
könnte anhaben, was es wollte, man sieht nur die wallende Mähne vom
blassesten Gold, die zu beiden Seiten des Gesichts herabfällt.
"Wenn du so dick sein wirst wie die Haare, Seelchen, so ist's recht. Nun
gibt's bald eine Schale Tee."
Aber sie will gar nichts. Auf den blassen Wangen brennen rote flecken und die
augen leuchten vor Verlangen. Ach sie ist in des rechten Christkinds Reich
gekommen, da unter dem Baum ist etwas so unglaublich Schönes! sie
hüpft auf ihren grauen dicken Strümpfen dorthin. Aber er hält
sie zurück. "Einen Augenblick, Seelchen, mach fest die Augen
zu."
Da steht sie, vielleicht zum ersten Male in ihrem armen, kleinen Leben ein
erwartungsvoll seliges Kind. Und es hat sich doch von jeher der ganze Segen der
so hoch entwickelten deutschen Spielwarenindustrie über sie ergossen. Und
nun klingen alle Weihnachtsglocken zugleich in ihrem Herzen zum ersten Mal, und
sie macht krampfhaft die Augen zu, so fest, dass sie noch die feinen
Händchen ballen muss. Ein Streichhölzchen knistert und ein feiner
köstlicher Wachsduft erfüllt den Raum. Augen auf! Da steht der Baum
im Glanz seiner zehn Kerzen, denn einen andern Schmuck trägt er nicht. Und
darunter erglänzt im sanften rötlichen Schein das Wunderwerk. eine
Krippe, aber nicht ein Stall, sondern aus grauem Steinwerk erbaut, eine Ruine,
eine Steinplatte als Dach, die Ritzen mit Moos gefüllt. Und durch eine
Rubinglasscherbe, die zwischen die Steine eingelassen ist, von oben in sanftes
Rosenlicht getaucht, die heiligen Gestalten. Aus farbigem Wachs modelliert von
den glücklichsten Künstlerhänden. Ein tiefer Atemzug des
Entzückens!
"Das Christkind! Liegt so mein Brüderchen in meiner Mutter Arm im
silbernen Sarg?"
Denn unter dem Rosenlicht liegt so sanft und lieblich ausgestreckt auf dem
Bettchen von seidenweichen Disteldaunen Maria, ihr Kind im Arm. Sie
schläft, das rundliche rosa Köpfchen ist an ihre Brust geschmiegt,
und mit der einen Hand hält sie, wie den köstlichsten Wiegenvorhang,
ihr weiches gelbes Haar um das schlummernde Kind. Über die beiden beugt
sich, mit dem schönsten Ausdruck beglückter Liebe und treuer
Sorglichkeit, Joseph. Auf dem Pfädlein, das durch Moos und graue Flechten
hinaufführt zu der Öffnung, wandern ein Knabe und ein zerlumptes
Mägdlein. Ein graues Wachseselein und eine biedere breite rotbraune Kuh
sehen aus einem Verschlägchen heraus.
Das Kind kniet vor den Herrlichkeiten auf dem Boden und schaut und schaut. Und
der lange Thorsteiner hinter ihr sieht mit der gleichen Kinderfreude auf sein
Werk.
"Ein Engelreigen gehörte wohl auch noch dazu, aber ich bin nicht
zurecht gekommen mit dem Federvolk. Wo denen wohl die Flügel
herauswachsen?"
"Hast du das gemacht?"
"Siehst du, es war freilich eine große Zeitverschwendung. Aber etwas
muss der Mensch zu Weihnachten bekommen. Die letzten Jahre gab's nichts, und es
war ein Weihnachtselend, wie es nicht an die größte Wand zu malen
ist. Aber jetzt bin ich Hausherr und werde mich doch nicht mir gegenüber
lumpen lassen. Und siehst du, das hat mir wohlgetan, es ist wie bei Dürer,
das Kind der Welt liegt auch in einer Ruine."
Nun singt die Teemaschine. "O lass mich da, ich muss immer nach der Maria
sehen," flüsterte sie, und auf einem alten Wollteppich kauernd feiert
sie die wonnigsten Weihnachten. Der Hausherr hat sich in seiner ganzen
gewaltigen Länge auf den Boden ausgestreckt, eine dampfende Teeschale
neben sich, ein Urbild des Behagens. Wie das Kind so zusammengekauert sitzt,
fallen seine glänzenden Haare fast auf den Boden, die Ellenbogen
stützt sie auf die Knie, und schaut und schaut, kaum dass die Teetasse
dazwischen zu Ehren kommt.
So ist in ihrem immergleichen Dasein noch kein Tag gewesen, so wundervoll und
so lang, als könnt er nie enden. In Wirklichkeit ist's kaum sieben, und
mit einem Blick auf seine Uhr berechnet er, ob es noch gelingen kann, mit der
guten Nachricht vor der schlimmen zu kommen. Wohl kaum.
"Du, Harro! für wen hast du das gemacht?"
"Nun, für mich und meine Kinder."
"Du hast doch keine und du brauchst keine."
"So, brauch ich keine?"
"Sieh, die schöne Maria; wenn die Kinder kommen, dann lärmen sie
und fassen an; und gehen sie fort, so hat gewiss die liebe Kuh nur noch drei
Beine."
"Meinst du, ich könnte nicht Ordnung halten in der Bande?" und
er reckt einen langen, Respekt gebietenden Arm aus.
"Du brauchst keine Kinder, du hast ja mich." Halb ängstlich,
halb trotzig sagt sie's.
"Dich hab ich nur noch eine Stunde Seelchen."
Es ist ein Schatten über die Weihnachtsfreude gekommen.
"Eine Stunde noch, dann hoff ich, dass dein Vater da sein wird, dein
lieber Vater."
Sie zuckt zusammen, und eine feine finstere Falte steht auf ihrer Stirn:
"Du hast nach ihm geschickt."
"Sie sind in Angst um dich."
"O, nun wird er böse sein, wie im Leben nicht! Und dann sagt er, was
er immer sagt: "Sie hat mir nur immer Kummer und Sorgen gemacht die arme
Kleine."
"Nein, das wird er nicht mehr sagen. du machst ihm jetzt Freude. Seelchen!
nun hast du ja die rechten Worte gefunden."
"Hab ich?"
"Die richtigen Worte, mit denen man alles sagen kann, was man lebt!"
"Ist das, weil du mir den rechten Namen gegeben hast? O sag ihm, dass ich
Seelchen heiße; aber wenn ich nicht dabei bin, musst du's tun. Oh, du
bist klüger als alle anderen: sag mir schnell, weiß Maria schon,
wenn sie das Kindlein hält in ihrem lieben Arm und es zudeckt mit ihrem
Haar, - wenn ich ein Kindlein habe, mache ich es auch so, dass die bösen
Leute nicht einmal hereinschauen können, - weiß sie, was mit dem
Kindlein wird?"
"Nein, dass weiß keine Mutter."
"Meine auch nicht, sonst hätte sie mich mitgenommen. Und dann wird er
groß, und die Menschen tun ihm Leid an. Und ist es wahr, dass sie hat
dabei stehn müssen und sehen, wie sie ihn tot machen?"
"Seelchen, komm, nicht weinen! Du hast zu viel erlebt heute."
Sie sieht ihn mit ihren sanften Augen verwundert an, über ihre schmalen
Wangen rinnen noch die Tränen.
"Ja, musst du denn nie weinen, wenn du daran denkst?"
Es ist ganz still in der großen Stube, nur in den Tannen knistert's, es
fällt ein Wachs herunter und die Wachslichter, die so schnell vergehen,
neigen sich schon. Das Kind wartet nicht auf Antwort. Es sieht hinein in den
Rosenschein, auf die schlafende Maria und das so süß geborgene
Kindlein. Es ist jene Stille, die so selten ist in unserer hastenden und
jagenden Welt voll guter und voll schlimmer Werke. Jene Stille, in der unsere
Seele zur Harfe wird, worin sich die Töne der Ewigkeit verfangen. Und es
webt sich fester und fester, das goldene Band aus der Himmelspforte im
kristallenen Wald. Und weil er eine Künstlerseele in sich trägt, die
in Bildern und Tönen denkt, so sieht er im Geiste wieder die
Prachtstraße, die nach der Himmelstüre führt, und das Seelchen,
das Sonnenkränzlein auf dem Haupt, geht ihm voran, und dort steht im
goldenen Glanz das himmlische Vaterhaus, das für ihn die Gestalt der
eigenen für immer verlorenen Heimat trägt. Und davor in dem
allerherrlichsten Bilde, das uns der Sohn von der Gottesliebe gemalt, der
Vater, der ausschaut nach dem wegemüden, dem sündenbestaubten und
heimwehkranken, dem verlorenen Sohn. Ein tiefer Seufzer hebt die breite Brust,
und indem er sich löst, hat seine Seele den ersten Pfeil ihrer Sehnsucht
nach dem ewigen Ziele gesandt.
Und nun kommt die Scheiterlein herein, den dampfenden Brei in bunt glasierter
Schüssel; das Seelchen bekommt nur ein paar Löffel hinunter. Zuviel
ist heute auf sein kleines Herz eingestürmt.
"Nimm mich in deine Arme, ich will noch in die Krippe hineinsehen."
Eine kurze Weile sehen die großen braunen Augen in die erlöschende
Glut, dann schließen sie sich, ein Traum wirft seinen bunten Mantel um
das Seelchen.
Ganz von ferne klingt in seine farbigen Bilder hinein die wohlbekannte Stimme:
"Meine Kleine, meine arme Kleine, wer hätte ihr das zugetraut!"
"Papa," flüsterte sie . . . und dann schließt das
Traumboot wieder mit dem Seelchen an vielen seltsamen Gestaden vorbei, bis es
Halt macht an einem grauen Morgenufer.
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