Dora Schlatter 1855 - 1915
Weihnachten an der Linie
Der 24. Dezember stieg herauf mit Sonnenschein und Himmelblau. Fast wie ein
Frühlingstag war er gestaltet, - so warm lag das Licht auf dem tiefblauen
Bergsee, der leise ans Ufer spülte. Freilich schauten auch jetzt die
Bergwände herunter in blendendem Weiß. Tief und dicht hüllte
der Schneemantel die Erde ein. Kaum guckten die braunen Häuschen aus der
Decke hervor; die Tannenäste hingen schwer und müde herunter, die
Hecken und Pfähle lagen tief vergraben; - weiß die Hänge,
weiß der Talgrund, weiß die Bergköpfe, - blau der Himmel und
blau der See. Nur eine Linie unterbrach die Farbenreihe, eine schwarze, schmale
Linie, die schwarze Schienenlinie, die sich dem Seeufer nachschlängelt,
sich in den Felsen hineingezwängt und in tiefen Tunnels durch den Felsen
durchgebohrt hat. Auf dieser schwarzen Linie saust der Bahnzug durch die
Stille, unter den mächtigen Bergen durch, überspringt den tosenden
Wassersturz und berührt fast die schäumenden Wellen.
Dort an der schwarzen Linie steht einsam ein kleines braunes
Bahnwärterhäuschen. Im Sommer ist's freilich ein lieblich Fleckchen
Erde, wenn die Rebe grünend ums Fenster rankt und die prächtigen
Pfirsichbäume ihren feinen Blätterschmuck über das Dach breiten;
- aber im Winter, da liegt es allein, zwanzig Minuten von M. und ebensoviel von
der Station H. entfernt. - Eben kommt der Bahnwärter Hartmann von seinem
Amtsgang zurück. Er klopft die großen Schneeklumpen von den
Füßen, schaut die Bergwand entlang zum Himmel und ruft:
"Mutter, komm mal heraus und schau den Himmel an. `s ist Föhn in der
Luft, wenn's nur kein Unglück gibt!" - Die Frau kommt aus der
Küche, in der sie am Feuer gewaltet. "Ja, ich hab's schon gemerkt,
dass es heut außergewöhnlich war ist. Es drückt mir auch allen
Rauch in den Kamin zurück; aber ein Unglück braucht's deshalb doch
nicht zu geben, fürchte nichts! Heut ist ja Christabend, da darf sich
jeder freuen." Damit strich sie dem Manne die Falten von der Stirn und
lockte ihn freundlich zum warmen Herd. Er folgte so gern. Ihm war sein kleines
Heim ein kostbarer Besitz. Dort hatte er seine frische, fröhliche Frau,
die immer zu trösten musste und nie murrte oder klagte, dort seine drei
Töchterlein, rotbackig und blondhaarig, die alle ihn anlachten. Eben kamen
sie daher gesprungen, Frieda, Lydia und Martha, und meldeten: "Mutter, der
Tisch ist gedeckt und alles bereit!" Aber mitten im fröhlichen
Geplauder am Frühstückstisch konnte der Vater die Sorge nicht
verscheuchen, immer hörte sein Ohr ein pfeifendes Sausen, immer irrte sein
Auge zum Himmel hinauf.
Bald rief ihn sein Amt wieder hinaus auf die Linie. Der Blitzzug brauste eben
aus dem Tunnel heraus, der einige hundert Schritt entfernt sich öffnete,
dann im Nu am Häuslein vorüber, und fort war er. Im Häuslein
aber regte sich's lebhaft. die drei Mädchen hatten eifrig zu wischen und
abzustauben, Tassen zu trocknen und in den kleinen Schrank zu tragen. Dabei
ging das Zünglein wie ein Rad rundum. Das schwirrte und fragte und lachte
beständig. "Mutter, wann zünden wir an heut Abend?" -
"Mutter, wo hast du die Tanne versteckt?" - "Mutter, was bringt
mir's Christkindlein? - So ging's hin und her, und die Mutter hatte viel zu
wiederholen, was sie schon hundertmal gesagt: "Am Abend, wenn der
Schnellzug von X. vorbei ist, dann zünden wir an, dann hat der Vater Ruhe
und kann bei uns sitzen und den neuen Tabak probieren, den ihm's Christkind
beschert." - Frieda und Lydia hatten auch ein Geheimnis auf dem Herzen.
Jede hatte dem Vater eine Socke gestrickt, - ach, war das eine Arbeit für
siebenjährige Finger mit so groben Nadeln! Aber jetzt lag das Paar warm
und wohlig im Schrank. Wie wird der Vater sich freuen! - Und der Mutter hatten
sie ein Bildchen gekauft, das sollte Mutters Gesangbuch schmücken, wenn
sie zur Kirche ging! Das große Geheimnis war kaum mehr zu bewahren, und
der Abend noch so fern! - Manchmal sind die Tage wirklich extra lang.
Jedes Kind hatte der Mutter einen Herzenswunsch in's Ohr gesagt. Martha hatte
dringend eine Puppe gewünscht, der alten hing der Kopf wie ein geknicktes
Rohr. Sie war von der Mutter selbst gemacht; auch der Kopf. Er war von
weißem Zeug gebildet, das Gesicht schön angemalt und mit Kleie
gefüllt. nun war auch dem Hals die Kleie verloren gegangen, und das arme
Gebilde sah allzu betrübt aus. Selbst die zärtlichste Mama konnte das
Kind nicht mehr schön finden. Unter dem Christbaum sollte ein neuer
Pflegling liegen. Die gute Mutter hatte gespart und gesorgt. Sie wollte ihren
Kleinen so gern eine Freude machen, eine recht tiefe, volle. Sie wusste von
ihrer eigenen Kindheit her, welch hellen Glanz ein seliges Weihnachtsfest
ergießen kann über den ganzen Winter. Frieda und Lydia sind schon
vernünftiger. Ihre höchste Sehnsucht ist eine neue Schürze, ein
Schreibheft und ein Bleistift. All das liegt bereit. Der Tag zieht vorüber
in froher Erwartung, in festlicher Vorfreude. Der Himmel hat sich mit
weißen Schäfchen bedeckt, die am Abend rosig erglühen. Den See
hat kein Windhauch gekräuselt. Die frühe Nacht kommt mit ihrem Dunkel
und ihrer Stille, die weihevolle Christnacht. -
"Mutter, ist's bald Zeit? - Mutter, wann kommt's?" - so klagt Martha
fast in weinerlichem Ton.
"Bald Kind, sehr bald, Kind, sehr bald, - jetzt ist's sieben Uhr, noch ein
halbes Stündchen und der Schnellzug geht vorüber. Steig du mit den
Schwesterlein in die Kammer hinauf und wart' droben, dann huscht das Christkind
in die Stube und macht alles bereit, bis der Vater kommt."
Die drei ließen sich das nicht zweimal sagen. Heute war's auch nicht kalt
in der Kammer wie sonst. Die Mädchen fassten sich an der Hand und standen
am Fenster. sie sahen wie der Vater mit der hellen Laterne die Linie entlang
ging und im Dunkel des Tunnels verschwand. Sie warteten, bis er herauskam und
nun näher und näher schritt. Schon war er an der Haustür, jetzt
in der Küche. Juchhe, nun geht's los! Die Kinder tanzten und zappelten. -
Da plötzlich tönt ein Brausen durch die Luft, ein Krachen und Tosen,
das Häuschen zittert und bebt. - Die Kinder schrieen laut auf, dann
rannten sie die Treppe hinunter. Totenbleich standen Vater und Mutter unter der
Tür. Ein mächtiger Schneeberg türmte sich kaum hundert Schritte
vor dem Häuschen auf. Wie auf einer Rutschbahn war eine Schneemasse den
Berghang heruntergekommen, Felsblöcke, Geröll und mächtige
Tannen mit sich reißend. Die eine Tanne lag quer über der Schiene, -
die andere streckte ihr gewaltiges Wurzelwerk darüber hin, - dazwischen,
in Klumpen geballt, Schnee und Steinmasse. die Mutter bebte.
"Ein paar Minuten später, und du wärst getroffen worden!"
sagte sie und suchte ihres Mannes Hand. "Gott sei Dank!"
Der Mann aber fand die Besinnung wieder und den klaren Überblick. "Um
Gotteswillen, Frau, in fünf Minuten kommt der Schnellzug von H. her! -
Wenn's nur nicht zu spät ist! Wenn er aus dem Tunnel fährt, ehe er
mein Signal gesehen - ist er verloren! Dort gähnt der See! - Schnell die
Laterne und dann hinaus! Es gilt Menschenleben!"
Er fasste seine Leuchte und stürzte fort. Atemlos sah ihm die Frau nach.
Heute in der Christnacht ein Unglück - es sollte, es durfte nicht sein! -
Sie zog ihre Kinder an sich, die ängstlich hinausblickten und den
Christbaum vergessen hatten. Sie schauten, wie der Vater bis tief über die
Knie im Schnee versank, wie er mühsam über den Stamm der Tanne
kletterte und dann in der Tiefe verschwand. - Dem Mann dort draußen aber
pocht das Herz. Er strebt voran, so schnell er kann, - er fühlt das
Zittern des Bodens vom heranbrausenden Zug, - jetzt weiß er, er hat den
Tunnel erreicht, - er rennt, was er kann, - hier eine Alarmpatrone auf die
Schiene legend, und dort wieder eine. Sie wird platzen im letzten todbringenden
Augenblick. Er schwenkt die Laterne. Sieht man ihn? Nein, der Tunnel verdeckt
ihn noch! Er erreicht den Tunnel - gottlob - da blitzen die feurigen Augen der
Lokomotive ihm entgegen, da schnaubt es neben seinen Ohren - ein Knall - ein
Sumsen und Bremsen - der Maschinist hat ihn gesehen und verstanden. - Die
Maschine steht hart unterm Tunnelloch. - Eine Minute später und es
wäre zu spät gewesen! "Was ist? Was gibt's?" tönt's
von der Maschine her. Der Zugführer kommt dahergesprungen. Die
Wagenfenster fliegen auf. "Was ist? Was gibt's? Warum bleiben wir
stehen?" So tönt's von allen Seiten. Hartman berichtet dem
führenden Personal den Vorfall. Sie steigen ab. Da überblicken sie
die Gefahr, der sie entgegenfuhren und der sie entronnen.
Was nun tun? - Eine kurze Beratung führt zum Beschluss: hinüber zum
Bahnwärterhäuschen, dort signalisiert man nach der Station M. - Es
ist am besten, man wartet den Güterzug ab, der um neun Uhr von M.
herüberfährt, und wechselt die Passagiere. - Die Belastung der Linie
ist zu groß, als dass sie in kurzer Zeit freigemacht werden könnte.
-
"Und die Passagiere in den Wagen?" - "Die können dort
bleiben und schlafen, oder aussteigen und herumgehen!" war die Antwort des
Zugführers. Die einen schimpften, - die andern dankten im stillen für
die Bewahrung. Es war ja freilich allen ein Strich in der Rechnung, - auf viele
wartete der warme, heimische Herd, vielleicht der brennende Weihnachtsbaum.
Aber hier galt es, sich still zu schicken in das, was ein höherer Wille
verfügt hatte. - "Dort drüben ist mein Haus, Sie finden dort
eine warme Stube", sagte Hartmann zu den ausgestiegenen Reisenden. Dann
schritt er zurück zum Häuschen. Wie leicht ging's jetzt über die
Tanne und durch den Schnee! Das Zittern seines Herzens hatte aufgehört. Es
war ihm eigentlich fröhlich im innersten Kämmerlein. Kein
Menschenleben war verloren! -
"Mutter zündete den Baum für die Kinder an. Ich muss leider
hinunter nach M. und den Stationsvorstand benachrichtigen. Es müssen Leute
her zu Arbeit." - Als er das betrübte Gesicht der Frau sah, sagte er
tröstend: "Dienst ist Dienst, liebe Frau. Freu' dich, dass uns Gott
behütet hat und so viele mit uns." Dann küsste er sie und eilte
der Linie entlang nach M. - Die Mutter seufzte. Ihr war's gar nicht
christabendlich ums Herz, und nun sollte sie anzünden. Aber da saßen
ihre drei Kleinen so still und betrübt, Martha weinte sogar leise. Da
raffte sie sich auf. Und es ist dennoch Weihnachten, und ich sollte danken,
statt murren! Kommt Kinder, wir zünden die Lichter an." - Bald
flammten sie auf. Wie Sternlein flimmerten sie durchs Dunkel. Nach und nach
leuchteten auch die Augen der Kinder auf. Die Freude zieht so gern wieder ein
ins Menschenherz und vertreibt Kummer und Tränen. "Mutterchen, eine
Puppe! Schöne, süße, liebe Puppe!" jubelte es durch den
Raum, und Martha herzt und küsst ihr neues Kleinod. - Lydia und Frieda
strecken der Mutter ihr Bildchen entgegen. Sie fühlen's, dass sie sie
trösten müssen darüber, dass die Socken so allein liegen und
niemand den guten Tabak rühmt. Die Mutter lächelt und küsst sie.
- "Nun aber singen wir, ehe die Lichtlein kleiner werden. Zuerst
gehört dem Christkind unser Dank!" Frieda und Lydia singen
fröhlich und hell hinaus:
Sei uns mit Jubelschalle
Christkindchen heut gegrüßt!
Wie freuen wir uns alle,
Dass dein Geburtstag ist!
Für uns zur Welt geboren,
Lagst du auf Heu und Stroh,
Sonst wären wir verloren,
Nun aber sind wir froh
Die Mutter hat Marthchen an der Hand gefasst und singt leise mit. Eine
Träne glänzt in ihrem Auge. Draußen liegt es ja so deutlich
heute Abend, dass wir "verloren" wären ohne Gottes treue Sorge
und sein Erbarmen! - Da quoll der Dank um so tiefer herauf aus ihrem Herzen.
Und nicht nur aus irdischer Not rettet er uns, - nein, er schenkt uns ewiges
Leben! Sollte das nicht froh machen, von Herzen froh? Leise hatte sich
während des Singens die Tür geöffnet - Kopf an Kopf drängte
herein durch die Spalte. Der Lichtglanz war hinausgedrungen zu den wartenden
Reisenden und hatte sie herbeigelockt. Wer mochte nicht gern einen Lichterbaum
sehen? - Da standen sie nun bald alle in der kleinen Stube; der rußige
Heizer, der Maschinenführer mit dem Adlerauge, der reisende Kaufmann, der
flotte Student, welcher in die Ferien zog, der Arzt auf Berufswegen, der
Offizier, der Urlaub hatte, der Bauersmann, der vom Markte kam - eine
große, zusammengewürfelte Gesellschaft. Sie kannten sich nicht,
hatten sich nie gesehen, - aber in ihrer Mitte brannte das Weihnachtslicht,
für alle entzündet, allen Friede bringend. "Wir wollen eins
singen, das alle können", tönte es da aus dem Hause, und gleich
darauf stimmte ein kraftvoller Tenor an: "O du fröhliche, o du
selige, gnadenbringende Weihnachtszeit." - Wer wollte das nicht
können! Das sang, das klang, als wollte es die engen Wände
zersprengen! Und es drang hindurch, es zog hinaus über die Stille des
Sees, hinauf zu den Höhen, da sein Auge wacht und sein Ohr offen steht
für das Bitten und Danken des Menschenherzens. Manch Herz zitterte noch im
Singen, wenn es der Gefahr gedachte, der es entronnen. Erst als sie
hinüberstiegen über die Trümmerhaufen auf der Linie, als sie
hinüberblickten in die tiefe dunkle Seeflut - erst dann hatten die
Reisenden begriffen, was ihnen gedroht, und wem sie entronnen. Da hatte das
Murren aufgehört und sich gewandelt in Dank. Darum klang's so hell und
froh durch die stille Nacht. -
Als Hartmann mit einer großen Mannschaft mit Schaufel und Pike
zurückkehrte, da fand er in seiner Stube eine große,
einträchtige Familie. Der Studio ließ die Puppe auf seinen Knien
tanzen, und die kleine Martha jauchzte dazu. eine freundliche Dame saß
bei Lydia und Frieda und bewunderte ihre Schürzen und Mutters Bildchen;
die Männer plauderte, und am Baum brannte das letzte Licht. -
Bald kam der Güterzug, welcher diesmal zum Personenzug werden sollte, und
nahm die harrenden Reisenden nach der Station M. und von dort ihrem Ziele zu. -
"Danke Hartmann! Danke vielmals!" tönte es aus vieler Munde. Es
ging an Händeschütteln und drücken, an ein Abschiednehmen und
gute Reise wünschen. Es war als trennten sich eine große, eng
verbundene Familie. - Lange noch hallten die Grüße und Rufe aus dem
forteilenden Zuge. Hartmanns Auge strahlte, als er einen Augenblick der Ruhe
suchte in der Küche bei seiner Frau. - In seiner Hand schimmerte ein
blankes Goldstück; jemand hatte es hineingedrückt, er wusste nicht
wer. Aber nicht das machte ihn fröhlich, sondern das Bewusstsein, dass er
durch Gottes Gnade hatte andern einen Dienst tun können, und viele Herzen
bewahrt waren vor Trauer und Tränen! Und das am Christabend!-
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