Bogumil Goltz 1801 - 1870
Eine Weihnachtsreise ins altpreußische
Land
Da es in meiner Erinnerung Winter ist, so kommen mir Bilder von einer
Winterreise, die ich vielleicht in meinem sechsten oder siebenten Jahre mit
meinen Eltern zu den Großeltern mütterlicher Seite nach
Altpreußen gemacht. Es waren wohlstehende, aber schlichte
Bürgersleute, die ihre alten Tage mit einer unverheiratet gebliebene
Tochter in einem Landstädtchen verlebten. Man muss so ein
ostpreußisches Städtchen im Winter gesehen haben und an einem
trüben Abende, nach weiter Reise durch eingeschneite Felder, Wälder
und über gefrorene Seen; man muss da in eine Herberge hinein gefahren und
über Nacht geblieben sein, um in der Seele zu begreifen, was es mit dem
nordischen Kleinbürgerleben und mit der winterlichen Symbolik bereits in
Ostpreußen so gut wie in Grönland zu bedeuten hat.
Von den Zurüstungen der Reise hab' ich nichts weiter behalten, als dass
ich in ein altes Umschlagetuch der Mutter vom Kopf bis zu den Beinen und bis
zum Ersticken fest gewickelt worden bin.
Um mich in der Stube stehen Kisten und Kasten; da nimmt mich eine polnische
Magd in die Arme, um mich in den Schlitten zu tragen. Jählings abgerufen,
wirft sie mich aber mitsamt meiner Emballage wieder zu dem übrigen
Gepäck, so dass ich umfalle und mir bei der Arbeit des Aufrichtens das
über den Kopf gezogene dicke Tuch auch über das Gesicht herab
schlägt. Da mir nun beide Arme wie einem Wickelkinde beschnürt sind,
so dass ich mir schlechterdings nicht helfen und nicht mal ein heiles Geschrei
ausstoßen kann, so ist es mir fast Matthäi am letzten, als meine
liebe Mama erscheint und mich befreit.
Unterwegs finde ich mich im Rücken der Eltern, unter einem fabelhaften
Verdeck, und zwar mehr liegend als sitzend verpackt. Die liebe Mutter sagt dann
von Zeit zu Zeit zum Vater: "Wenn der arme Junge nur gut Luft holen
kann"; und dann fragt sie mich laut und ängstlich: "Jungchen,
lebst du auch noch, mein Kind?" "I nein, nur ein bisschen."
"Na, wickle dich nur recht fest ein und rühr' dich nicht viel, mein
Kind."
Dann sagt wieder der Vater: "Na, na, ängstige dich nur nicht, liebe
Frau, der ist ein knorriger Bengel und ein Unkraut obendrein; so eins verdirbt
so bald nicht; wenn dir das Maul zugefroren ist, Junge, dann meld' es der
Mama."
Dann wieder fahren wir bei einbrechendem Abende über einen großen
gefrorenen See. Der Kutscher und der Vater gehen neben dem Schlitten her, und
mich hat die Mama von hinten fort und auf den Schoß hervorgeholt, um
mich, falls der Schlitten einbrechen möchte, gleich weit aufs feste Eis zu
werfen, so denk ich es mir jetzt, und so hab' ich's wohl damals gefühlt.
Es geht alles ganz glücklich bis zum Ufer; da ist das eis mürber, die
Pferde brechen ein, der Schlitten sinkt einen Augenblick ins Wasser, aber wir
kommen doch mit vielem Geschrei und antreiben aufs Land und gleich darauf in
einen "Krug" (Herberge). Die Mama und ich selbst, wir sind trocken;
der Kutscher aber und der arme alte Papa sind pfütznass und die liebe Mama
so erschrocken, dass sie dem Vater mit Tränen um den Hals fällt, der
sie lachend beruhigt und mit lauter Stimme eine ganze Kasserolle voll Warmbier
kommandiert.
Dann muss der wirt dem Vater die nassen Stiefel abziehen, und da dies nicht auf
die gewöhnliche Weise gehen will, so hat sich der Mann mit dem Gesicht vom
Vater abgekehrt und dieser ihm einen Fuß gegen den Rücken fest
gestemmt, der Wirt aber den einen Stiefel fest n den Händen gehalten, bis
er ihn richtig mit Gelächter herunterkriegt.
Am andern Tage fahren wir bei ganz gelindem Wetter und indem der Schnee wie in
ganzen Lämmerfliesen herunterflockt, durch einen unermesslichen
Föhrenwald, der in der Ostpreußen eine Heide genannt ist. Ich sitze,
da weiter keine Gefahr mit Erfrieren vorhanden, ganz wohlgemut und munter
zwischen den lieben Eltern.
Zwischen den Schneemassen blickt überall das herzerfrischende
Weihnachtsgrün der Kiefern und Fichten hervor, die wie große heilige
Christbäume zuhauf stehen. Ich empfinde und denke nichts weiter als die
gleichmäßige stille und schnelle Bewegung des Schlittens; mir ist so
reinlich, so säuberlich und dann wieder so mystisch, so verwandlungsvoll,
so feierlich und weihnachtlich bis in die innerste Seele hinein, dass ich
lauter Weihnachtsstimmung, also gar nicht bei ordinärem Menschenverstande
bin. Mir ist vielmehr so märchenhaft, wie wenn die ganze Welt zu lauter
Schnee und Weihnachten werden will; als wenn ich selbst ein warmes und
leibhaftiges Schneewetter und Weihnachtswunder bin, in dessen heilige Stille
das Schlittengeläute feierlich und wundersam hineintönt wie die
Glocken des heiligen Christes, der die großen Menschenkinder im
eingeschneiten Walddome zur Weihnachtsbescherung ruft. Damit sie nun nichts
anderes hören, sehen und empfinden, so wird mit der jungfräulichen
Unschuld der Mutter Maria und des Christkindes die schwarze, harte
Menschensünde so zugedeckt, verwandelt, gereinigt und verträumt, wie
der schwarze, hart gefrorene, von jedem Tritt widerhallende Erdboden weich und
weiß mit Schnee überdeckt wird.
Und in solcher dicken Weihnachtsstimmung kommen wir zu dem Städtchen der
Großeltern und durch das betürmte, in Ritterzeiten gebaute Tor.
Aber wenn das auch nicht gewesen wäre, so mussten wir doch alle von
mancherlei Gefühlen bestürmt sein. Meiner Mutter Heimat und ihre
Geburtsstätte umfingen und hier. Der Vater hatte hier um seine
Lebensgefährtin gefreit, er hatte in diesem Städtchen viele Jahre in
Garnison gestanden und hier seine Jugendzeit verlebt; ich selbst aber fuhr zum
ersten Mal mit vollem Bewusstsein in die Stadt.
Wir schwiegen also alle mitsammen stille, aber die Eltern hielten sich bei den
Händen, die Mutter brachte das Taschentuch an die Augen, und ich hatte
nicht Augen und Sinne genug, um das zu bewältigen, was jeden Augenblick an
Wundern zum Vorschein kommen oder vielmehr auf uns losstürmen musste. So
stand's mit uns. Mein Vater suchte wohl seine Rührung hinter den Versen
eines alten Soldatenliedes zu verbergen, von denen ich nur zwei Strophen
behalten hatte, die er allemal rezitiert hat, wenn ihm so recht behaglich oder
wundersam zumute war. Mit tremolierender Stimme und halblaut sang der alte Herr
vor sich hin:
"O wunderbares Glück,
kehr' noch einmal zurück!"
Aber ich habe die Ankunft und den Empfang im großelterlichen Hause
vergessen. Ich war wohl zu schläfrig, oder von der Ofenwärme, wie von
den großelterlichen Liebkosungen zu benommen, um heute noch was Rechtes
davon zu wissen.
Man hatte mich in einem Oberstübchen zu Bette gebracht, und es geschah zum
erstenmal, dass ich unter dem frommen Gesange des Nachtwächters
einschlief, dessen zehnmaliges Pfeifen mir noch viel mehr zu schaffen gemacht
hätte, wenn ich nicht so todmüde gewesen wäre.
Am andern morgen aber weckte mich die Reveille des Trompeters auf, den ich
schon im Traume gehört. Es waren mir entzückende und unbegreifliche
Töne, wie eines ungeheuren messingenen Hahns, und als sie unter dem
Fenster erschallten, war es mir durchaus so, als kämen sie geradewegs zur
Stube herein und als schmetterten und krähten sie mir das Weihnachtswunder
in den Kopf.
Nachdem es wieder still geworden war, fühlte ich mich einen Augenblick wie
berauscht und verwirrt.
Als ich mich aber ein wenig in meinen Bewußthaftigkeiten examiniert und
zur süßen Gewohnheit des Daseins orientiert hatte, brachte ich zu
meiner dreifachen Wonne ordentlich heraus: dass heute der erste heilige
Christfeiertag, dass ich bei den Großeltern einlogiert und in einer
wirklichen Stadt angelangt sei.
Als ich nun so mit urdeutscher Gründlichkeit innegeworden war, wo ich denn
eigentlich befindlich und was mir alles in die nächste Aussicht gestellt
sei, da zappelte mir mein armes Herzlein wie ein Lämmerschwänzlein in
der Brust.
Die obwaltenden Finsternisse disharmonierten allzu dusterlich mit den hellen
Lichtern in meiner Weihnacht feiernden Seele. Ich musste notwendig auch von
draußen Licht haben, um die altpreußische Wunderstadt oder doch die
großelterliche Schlafgelegenheit zu besehen. Ich musste mit der goldenen,
herzigen Mama vom Trompeter plaudern und in der Geschwindigkeit so ein paar
Dutzend Fragezeichen und Wunder vom Herzen loskriegen, bevor vielleicht der
Papa und die halbe Welt dazwischen kam; denn lange ließ mich mein
Erzeuger mit der all zu gütigen und zärtlichen Mama nie allein. Und
doch wollte ich die liebe, gewiss auch müde gemachte Mutter nicht aus
ihrem süßen Schlummer aufstören, darum hüstelte und
rabastelte ich nur ein ganz klein wenig in meinem weichen Lagerchen, bis denn
doch die wankelmütigen Bettpfosten so laut ächzten und meine
redelüsternen Lippen so vernehmlich wisperten, dass die liebe Mama mit
ihrer so sanften, zum Herzen schleichenden Stimme respondierte: "Na, mein
Jungchen, du kannst wohl schon vor Freuden nicht länger schlafen."
Die Großeltern hielten einen Gewürz- und Kramladen von den
Trümmern eines bedeutenden Geschäfts, das von Hause aus in
Königsberg betrieben worden war. Aus jener goldnen oder silbernen Zeit
hingen da noch im Laden einige Raritäten: eine Kokosnuss, ein
Straußenei, vor allen Dingen aber ein Seeschiff und, was mir für das
fabelhafteste galt, ein Krokodil. Die Mutter hatte an langen Herbstabenden von
diesen Wundern in ihrer Eltern Laden mit derselben Miene wie von
Märchenabenteuer erzählt, und jetzt stand ich auf einmal mitten unter
diesen Herrlichkeiten, das heißt mitten im Kram.
Denn als wir zum Frühstück die Treppe herabkamen, wurden eben aus dem
verschlossen gehaltenen Laden Rosinen und Mandeln und was sonst noch geholt.
Sodann sah ich mit stieren Augen und mit allen meinen Sinnen in Wirklichkeit,
was bis dahin nur in der Einbildungskraft gelebt.
Die Mutter wie der Ladenbursche vergnügten sich wohl an meiner
Verwunderung und beleuchteten zunächst auf mein leises Befragen das viel
besprochene Krokodil. Es hing schauerlich-schön überfirnißt und
bestaubt von der Decke herab. Der halbgeöffnete Rachen zeigte die
furchtbaren Zähne, und so fehlte es mir keineswegs an dem heiligen
Respekt, mit welchem man Altertümer und Ungeheuer in Augenschein nehmen
soll. Es waren, genau gezählt, nur die vier Raritäten; meine Sinne
aber waren so berauscht und Wunder gebärend, dass ich in allen Schiebladen
nichts als Krokodileier, Straußeneier, Kokosnüsse und kleine
Seeschiffe sah.
Aus dem Wunderladen ging es nun zu den Großeltern in die große
Putzstube mit einem kolossalen Fenster auf das Gehöft hinaus.
Auf dem großen Eichentische mit gewundenen Füßen stand nicht
nur Kuchen und Kaffee bereit, sondern in einer blaugemusterten hohen
Porzellankanne duftete eine Schokolade, von der die Mama noch aus dem
Vaterhause her eine große Liebhaberin war. Mein Sinn und Geschmack aber
schwamm in lauter Weihnachten und blieb demnach auf die Tür des letzten
Hinterstübchens gerichtet, wo die liebe Großmama unter dem Beistand
der alten Ladenjungfer mit Beschickung des heiligen Christes beschäftigt
war.
Weihnachten hatte damals für alle Christenmenschen, gläubige wie
ungläubige, in der Seele denselben Klang und Sang, denselben Schimmer und
heiligen Schein. Kinderweihnachten zu beschreiben ist so unmöglich und so
überflüssig, wie wenn einer seine Seele und sein Christentum oder
sein Eingeweide wie einen Handschuh heraus wenden wollte. Ich mag also nur
sagen, was eben die altpreußische Weihnacht Absonderliches mit sich
geführt hat, und das war hauptsächlich ein Tannenbaum mitten aus der
Heide, in eine große Bütte mit nassem Sande gepflanzt, so dass der
goldenen Apfel auf der Spitze beinahe die Zimmerdecke anstieß. Dann ein
neuer Zinnteller, so gleißend wie eitel Silber, auf dem die Thorner
Pfefferkuchen, die Marzipanstücke, die Nüsse, die Rosinen und Mandeln
und die roten Stettiner Äpfel lagen, und endlich eine Schachtel mit
gedrechselten "Heiligenbeiler Spielsachen" von Wacholder, welches ein
Geäder wie Zedernholz hat und dessen starker und ganz eigentümlicher
Geruch mich heute noch, wo ich auf ihn treffe, ganz tiefsinnig und
schwermütig macht.
Während nun Eltern und Großeltern zu ihrem Herrn und Heiland in der
Kirche beteten und Buße taten, habe ich traum- und glückselig mit
meiner Christbescherung gespielt. Und so geschah und geschieht es von Schrift
wegen; denn der Heiland ist der älteste und echteste Kinderfreund, und da
die Kinder nach seinem Ausspruche vom Christentume lebendig beseelt sind, so
soll ihnen der Ernst und die Arbeit des Christentums noch ein Spiel und eine
Glückseligkeit, ein Weihnachtshimmel auf dieser Erde sein.
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