Gertrud Storm 1865 - 1936
Weihnachten bei Theodor Storm
Unser Vater war ein echter, rechter Weihnachtsmann, er wusste jedes Fest erst
recht zu einem Feste zu gestalten. Den ganzen Zauber der Weihnacht zu
übertragen. Und so feiern auch wir, seine Kinder, unsere Weihnachtsfeste
ganz im sinne unseres Vaters. Der Weihnachtsbaum wird genau so geschmückt,
wie er einst ihm geschmückt wurde, die Kuchen nach den althergebrachten
Familienrezepten gebacken, wie sie schon sein Kinderherz entzückten. Wenn
das alte liebe Weihnachtsfest wieder naht und ich mich in eine rechte
Weihnachtsstimmung versetzen will, setze ich mich in der Dämmerung in
einen tiefen Lehnstuhl. Von draußen wirft die Laterne traulich ein mattes
Licht durch die Fenster. Ich schließe die Augen, und bald bin ich daheim
in unserm großen, alten Hause in Husum in der Wasserreihe. Meine
Geschwister und ich, wir sind wieder Kinder.
Es wird wieder einmal Weihnachten, und wir Kinder leben in goldenen
Träumen, bis das im Leben so seltene Wunder eintritt, dass diese
Träume in dem brennenden Weihnachtsbaum verkörpert vor uns stehen.
Draußen auf den stillen Wegen des Gartens, den Sträuchern und alten
Bäumen, liegt glitzernder Schnee. Im ganzen Hause duftet es nach Tannen
und braunen Weihnachtskuchen. Feststimmung guckt schon aus allen Ecken, wie
eine Ahnung von Weihnachtsabend.
Es weihnachtet sehr - die Heimlichkeiten wachsen mit jedem Tage. Vater
schließt sich immer häufiger in seiner Studierstube ein, und wir
Kinder, die wir um die Zeit der heiligen Weihnacht gerne an den Türen
lauschen, hören ihn die Tür des Nussbaumschrankes öffnen und
leise wieder schließen. Dieser Nussbaumschrank birgt in seinem Innern
alle Geheimnisse und Wunder fürs Weihnachtsfest. In einem unbewachten
Augenblick treten wir doch ins Zimmer. Vater schließt schnell den
Schrank, dann nimmt er uns in seine Arme, macht ein geheimnisvolles Gesicht,
sieht uns innig an und sagt mit leiser Stimme nur das eine Wort
"Weihnachten".
In der Essstube ist großes Kuchenbacken. Unsere Mutter und die
Mädchen stehen mit aufgekrempelten Ärmeln. Sie rollen weißen
und braunen Kuchenteig aus, der in großen Steintöpfen um den Ofen
herum steht. Große schwarze Platten stehen bereit, die verschieden
geformten Kuchen aufzunehmen, die dann von den Mädchen zum Bäcker
getragen werden.
Auch wir Kinder haben unseren Teil bekommen. Wir stehen an unserem kleinen
Kindertisch, ein weißes Nachthemd über unsere Kleider, ein
gezipfeltes Taschentuch auf dem Kopfe. Jedes von uns hat ein Klümpchen
weißen und braunen Kuchenteig vor sich, der bald unter unseren
geschäftigen kleinen Händen in die wunderbarsten Dinge gewandelt
wird. Die Tür öffnet sich, und unser Vater tritt mit dem
freundlichsten Leuchten seiner blauen Poetenaugen ins Zimmer.
"Ihr seid ja alle gewaltig in der Fahrt", neckt er und bewundert
unsere herrlichen Schöpfungen, von denen man meistens nicht zu erkennen
vermag, was sie vorstellen sollen. Es beginnt nun ein heimliches Geflüster
zwischen Vater und uns, und es gelingt uns, Vater einige kleine
Weihnachtsüberraschungen verraten zu lassen, die unsere Freude am
Weihnachtsabend keineswegs verringert.
"Morgen wollen wir vergolden und Netze schneiden", spricht der Vater
verheißungsvoll.
Wenn wir in ein bestimmtes Alter gekommen waren, durften wir vergolden helfen
und Netze schneiden. Die langen schmalen Streifen Rauschgold wurden freilich
nur von unserm Vater geschnitten, mit seiner großen alten Papierschere,
die ich so deutlich vor mir sehe. -
Morgen ist heute geworden, und Vater nimmt uns mit in seine Studierstube. Die
dunkle Holztäfelung der Decke, die tiefrote behagliche Färbung der
Wände, an denen ringsum die Bücherregale laufen, und über dem
Tische die helle leuchtende Lampe schauen uns behaglich und gar
verheißungsvoll an. Auf dem Tisch ausgebreitet liegen Nüsse,
Tannenzapfen, Eier und Schaumgold. Wir setzen uns alle um den Tisch und
beginnen nach Vaters Anordnung Watte in Eiweiß zu tauchen, mit der wir
vorsichtig die Nüsse und Tannenzapfen betupfen. Dann wird ein Stück
Schaumgold auf die befeuchtete Stelle gelegt und vorsichtig mit Watte
angetupft. Nun werden zwölf Netze vom feinsten weißen Konzeptpapier
geschnitten. Uns Kinder klopft das Herz dabei: "wenn wir nun die Spitzen
abschneiden!" In die Netze kommen große, viereckige Bonbons, die wir
alter Tradition gemäß in farbige Papiere wickeln, die durchaus die
Farben: grün, gold und hausrot haben müssen.
Auf diese Netze in denen schon feine Kinderträume hingen, legte unser
Vater besonderen Wert. Wer von uns zum erstenmal in seinem kleinen Leben ein
solches wunderbares Netz tadellos ausgeführt hatte, kam sich vor, als sei
er nun erst ein fertiger kleiner Mensch geworden.
Die weißen Netze sind geschnitten und tadellos zu unseres Vaters
innigster Befriedigung ausgefallen. Goldene Nüsse, Eier und Tannenzapfen
heben sich leuchtend von der dunklen Tischplatte ab. Wir Kinder stehen
ermüdet und wollen zu Bett gehen. Vater tritt ans Fenster, öffnet
weit beide Flügel. - Der Mond scheint, und wir Kinder sehen deutlich
zwischen Vaters ausgebreiteten Armen in den beschneiten Garten. Da spricht
Vater mit leiser, wie von Musik getragener Stimme:
"Mondbeglänzte Zaubernacht,
die den Sinn gefangenhält,
wunderbare Märchenwelt,
steig' auf in der alten Pracht."
Wir gehen still und nehmen den Zauber dieser Stimmung mit in unsere
Träume, aus denen wir mit dem seligen Bewusstsein erwachen: "Heute
ist er, der Heilige Abend." Nun beginnt ein buntes Treiben im Hause. Vater
trägt alle seine Schätze selbst ins Weihnachtszimmer, in dem die
zwölf Fuß hohe Tanne schon ihres Schmucks wartet. Wir Kinder
schmücken in unserer Kinderstube ein kleines, bescheidenes Bäumchen
für arme Kinder. Wir haben ihn von unserem eigenen Gelde erstanden. Vater
und Mama schließen sich unten ins große Weihnachtszimmer ein,
gleich wenn man in den Flur tritt links, und der Märchenbaum fängt an
sich zu entfalten. Die Brüder Hans und Ernst kommen heim und Karl, unser
stiller Musikant. Heute muss Vater alle seine Kinder um sich versammeln haben,
um ein rechtes Weihnachtsgefühl zu empfinden. Die Fenster der
Weihnachtsstube sind dicht verhangen, die vielen Türen, die ins Reich der
Weihnachtswunder führen, verschlossen.
Wir schleichen an die Fenster und knien vor den Türen. Meine jüngste
Schwester Dodo hat ein besonderes Talent, mit unserer Mutter, verborgen in den
Falten ihres Kleides, in die Weihnachtsstube zu schlüpfen.
Vom frühen Morgen an kommen Scharen von Kindern, die von Haus zu Haus
ziehen und im Flur ihre hellen Kinderstimmen ertönen lassen: "Vom
Himmel hoch da komm' ich her." Ein großer Korb mit Wasserkringel
steht schon bereit, mit denen die kleinen Sänger belohnt werden. Mittags
wird nach althergebrachter Sitte Kaffee getrunken und Butterbrote gegessen. Der
Kaffeekanne entströmt an diesem Tage ein wundersamer Duft, so duftet er
nur einmal im Jahr, und die Butterbrote schmecken uns wie der schönste
Kuchen.
Am Nachmittag wandern wir Kinder, jedes ein Körbchen am Arm, ins Kloster
St. Jürgen. wir wollen zwei alten Großtanten dort bescheren,
"Tante Anna und Tante Christine". Tante Anna wird von uns bevorzugt.
In ihrem kleinen, behaglichen Altjungfernstübchen liegen wir
schließlich auf der Erde vorm offenen Ofen und schauen in die rote Glut
der verglimmenden Kohlen. Die liebe, alte Tante sitzt im alten Lehnstuhl neben
uns, ihr feines altes Gesicht von einer weißen Spitzenhaube umrahmt. sie
erzählt uns altmodische Kindergeschichten, an die sich immer eine Moral
knüpft. Wir hören interessiert zu, knacken dabei Nüsse und
werfen die Schalen in die rote Glut - das knistert so schön. - So vergeht
die Zeit - vom Kirchturm drüben schlägt es halb fünf. Tante Anna
hüllt uns sorgsam in unsere warmen Mäntel und Kapuzen, und fort geht
es.
Auf den Straßen liegt tiefe Dämmerung, der Schnee knirscht unter
unseren Füßen. Schwärme von Kindern begegnen uns, hier und dort
dringt aus einer geöffneten Haustür Gesang zu uns heraus. Wir fassen
uns an den Händen und laufen und kommen atemlos heim. Im Flur bleiben wir
stehen und singen, als gehörten wir zu den Sängern. Die Köchin
kommt aus der Küche gelaufen mit den üblichen Wasserkringeln. Sie
jagt uns lachend und scheltend in die Kinderstube. Wir werden nun festlich
geschmückt und gehen dann in die Studierstube unseres Vaters, wo wir schon
unsere Großmutter mit ihrer getreuen Lebensgefährtin, von uns
"Tante Tine" genannt, und zwei alte Freunde des Hauses in behaglichem
Geplauder vorfinden.
Seit dem Tode unseres Großvaters schaut Großmutter unserer
Bescherung zu. Großvater war zwar niemals bei der Bescherung zugegen,
aber wir wussten doch, er saß währenddessen behaglich in seinem
Kontor und freute sich über die kleinen Sendungen an Geld und Viktualien -
meistens - meistens ein großes Stück Rauchfleisch - die er von dort
aus an Kinder und Schwiegerkinder gespendet hatte.
Nun auch er in das Land der Vergangenheit gegangen ist, lässt die bunte
Kinderfreude diesen Abend der Erinnerung sanft für unsere Großmutter
vorübergehen.
Endlich ertönt der Klang der silbernen Glocke. Wir stürzen die Treppe
herunter, die Flügeltüren fliegen auf, wir treten ein, jung und alt.
Ein starker Duft von Tannen, brennenden Lichtern und braunen Weihnachtskuchen
schlägt uns entgegen - und da steht er, der brennende Baum, im vollen
Lichterglanz. Ich will ihn mit meines Vaters eigenen Worten schildern:
"Mit seinen Flittergoldfähnchen, seinen weißen Netzen und
goldenen Eiern, die wie Kinderträume in den dunklen Zweigen
hängen." - Oder wie er in einem Brief an Freund Keller geschildert
wird: "Der goldene Märchenzweig, dito die Traubenbüschel des
Erlensamens und große Fichtenzapfen, an denen lebensgroße
Kreuzschnäbel von Papiermache sich anklammern. Rotkehlchen sitzen und
fliegen in dem Tannengrün, und eines sitzt und singt bei seinem Nest mit
Eiern. Feine weiße Netze, deren Inhalt sorgsam in Gold- und andere in
Lichtfarben gewählte Papiere gewickelt ist."
Der Märchenzweig ist eine Erfindung meines Bruders Ernst. Ein großer
Lärchenzweig wird ganz vergoldet und so in der Mitte des Baumes befestigt,
dass er seine schlanken feinen Zweige nach allen Seiten ausbreitet. Ein Freund
unseres Hauses, Regierungsrat Petersen, der derzeit in Schleswig lebte, taufte
den so vergoldeten Zweig "Märchenzweig". Freund Petersen und
Vater tauschten alle Jahre kleine Weihnachtsüberraschungen aus. In einem
Jahr brachte er Vater kurz vor Weihnachten das erste Paket "Lametta".
Vater schreibt darüber:
"Unser Tannenbaum hat in diesem Jahr besonderes Aufsehen erregt. Freund
Petersen brachte am Sonntag vor Weihnachten eine Tüte märchenhafter
Silberfäden. Mit diesen feinen Silberfädchen wurde der Baum
umsponnen, dass er aussah wie fliegender Sommer." -
Unser Karl setzt sich ans Klavier und stimmt leise an: "Stille Nacht,
heilige Nacht." Wir alle stimmen ein. Das Weihnachtslied ist verklungen,
wir umstehen den Baum und lassen die Wunder der Weihnacht still auf uns wirken.
Vater nickt uns bewegt zu, legt den Arm um unsere Mutter und führt wie
immer sie zuerst zu ihren Gaben, die geheimnisvoll umhüllt sind. Mitten
auf dem Tisch steht zu Mamas grenzenloser Verwunderung Vaters Pelzmütze.
Mama erfasst sie zögernd, ihr Blick hängt fragend an dem unseres
Vaters - und hervor rollt eine große Papierkugel. Ein Papier nach dem
andern wird abgewickelt, bis sich schließlich in einem kleinen
Kästchen verborgen ein feiner, goldener Ring dem erstaunten Blick zeigt.
Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein solcher Ring war ein
langgehegter Wunsch meiner Mutter. Vater erwartete leuchtenden Auges die
Wirkung seiner Überraschung. Mein Schwester Ebbe sagte einmal bei solcher
Gelegenheit: "Vater hat ein Weihnachtslicht in den Augen." Nun
führt Vater jedes seiner Kinder zu seinen Gaben, uns kleine zuerst. Puppen
- wohin wir sehen, kleine und große - und Bücher, die durften
niemals auf unserm Weihnachtstisch fehlen. Wir haben uns müde gespielt -
wir nehmen unsere Weihnachtsbücher und setzen uns im trauten Schein des
Lichterbaumes und lesen. Gar verführerisch ist es, heimlich ein
Stückchen Zuckerwerk abzuzupfen und es ebenso heimlich zu verzehren. Vater
tritt leise zu uns unter den Tannenbaum, streicht uns sanft mit seiner
schönen, schlanken Hand übers Haar uns fragt: "Hab' ich's
getroffen?" Nachdem sich das erste Entzücken gelegt hat, bringt die
Köchin das messingene Kohlenkomfort, auf dem gar bald der blitzblank
geputzte Teekessel ein melodisches Lied anstimmt, und der Duft feinsten Tees
vermischt sich mit dem der Tanne und der braunen Weihnachtskuchen. Die beiden
Mädchen in den gleichen maiengrünen Festgewändern, mit
Häubchen und blendend weißen Schürzen angetan,
präsentieren den Tee, wir Kinder den knusprigen Weihnachtskuchen. So
sitzen wir recht traut beisammen. Da erklingt von draußen, vom Vorplatz,
der Gesang einer tiefen melodischen Altstimme zu uns herein:
"O du fröhliche,
o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit."
Ein helles Leuchten verklärt das liebe Angesicht unseres Vaters, er steht
leise auf, öffnet die Tür und zieht ein gar liebliches kleines
Bettelmädchen herein.
Das Kind, mit von der Kälte geröteten Wangen, strahlenden
Kinderaugen, das Gesichtchen von blonden Locken umrahmt, bleibt stumm und wie
verzaubert im Türrahmen stehen.
Wir alle umstehen sie, sie muss noch einmal ihre glockenreine Stimme hören
lassen. Dann erfasst Vater eines ihrer schmutzigen kleinen Händchen und
fragt sie liebreich: "Was willst du nun haben, etwas zu essen oder
Kuchen?"
"Danke, ich habe schon gegessen", spricht das Kind zu unserer
grenzenlosen Freude. Da heißt mein Vater sie ihr Schürzchen auftun,
Mama nimmt vom Tisch einen vollen Teller Weihnachtskuchen und schüttet ihn
in die ausgebreitete Schürze.
Voll leuchtenden Dankes schaut das Kind zu Mama auf, wirft noch einen scheuen
Blick auf all den Lichterglanz und die strahlenden Gesichter, und fort ist sie,
die kleine Lichtgestalt, denn so erscheint sie uns trotz ihrer Lumpen.
Die Lichter sind erloschen, die glitzernde Pracht des Baumes leuchtet nur noch
im matten Dämmerlicht der Lampen. Unsere Mutter ruft zum Festessen. - Wir
Kinder trennen uns schweren Herzens vom Tannenbaum, unseren Puppen und
Büchern. Sauerbraten und ein großer Apfelkuchen - Tante Moritz
genannt - bilden das Festessen, Punsch, nach Vaters kurzweg
"Landvogt" genannt, ist das Festgetränk.
Wir alle sitzen an unseren Plätzen, der Punsch ist in die Gläser
geschenkt, Vater erhebt sein Glas, er nickt uns allen voll innigster
Befriedigung zu und sendet dann in einem kleinen Trinkspruch "einen vollen
Gruß seiner Liebe" allen denen, die seinem reichen, liebevollen
Herzen nah', an diesem Abend aber ferne von ihm sind. Der Apfelkuchen wird
aufgetragen, nach dem unsere begehrlichen Kinderaugen schon lange ausschauen.
Einer der alten lieben Weihnachtsgäste wirft an jedem Weihnachtsabend zu
unserer heimlichen Freude die Frage auf: "Ist das nicht Tante
Moritz?" Und jedes Mal folgt die prompte Antwort: "Ja, das ist Tante
Moritz."
Von Tante Moritz ist nach einer Weile keine Spur mehr, und nun geht es noch
einmal zurück ins Weihnachtszimmer. Jeder von uns folgt seinen besonderen
Neigungen. Meine Brüder ergreifen mit einem wahren Festtagsausdruck ihrer
blauen Augen die neuen Bücher und ziehen sich mit ihnen in irgendeinen
Schmunzelwinkel zurück. wir Kinder nehmen unsere Puppen auf den
Schoß und lauschen, denn Karl, unser Musikus, singt uns ein
neueinstudiertes Lied von Robert Franz:
Einen schlimmen Weg ging gestern ich,
einen Weg, den ich nicht wieder geh,
zwei süße Augen trafen mich,
zwei süße Augen, lieb und blau."
Karl hat einen wunderbaren Bariton und singt einfach, mit tief zu Herzen
gehendem Vortrag. Zum Schluss spielen Karl und meine Schwester Lisbeth
"Nussknacker und Mausekönig" von Carl Reinecke. Vater liest den
Text dazu. So ist es immer bei uns.
Lautlos lauschen wir alle, eine träumerisch - selige Stimmung umfängt
uns. Der letzte Ton, das letzte Wort ist verklungen. Unsere Mutter mahnt leise
zum Schlafengehen. Draußen vor dem Fenster stäubt der Schnee, aber
während wir Kinder bald in einen tiefen Schlaf fallen, machen die Eltern
und großen Geschwister noch einen Besuch im brüderlichen Hause in
der Süderstraße.
Jahre kommen und gehen. Es ist unserm lieben Vater nicht mehr vergönnt,
alle seine Kinder um den heimatlichen Weihnachtsbaum zu versammeln. Stattdessen
werden Kisten gepackt und Pakete gemacht und Weihnachtsbriefe geschrieben. An
Hans nach Wörth in Bayern, wo er als Arzt lebt, an Ernst nach Toftlund und
Lisbeth nach Heiligenhafen. Sie haben sich inzwischen selbst ein Heim
gegründet und schmücken dort ihren Kindern den Baum.
Und Vater klagt in einem Brief an seine Tochter Lisbeth: "So haben wir
denn das Weihnachtsfest gehabt, und ich fühle es recht schmerzlich, dass
wir gar so getrennt sind. Es ist sehr schön, der Mittelpunkt einer
großen Familie zu sein, aber recht schwer, wenn so ein alter Mensch sich
in so viele Teile spalten soll. Für mich fehlen zu viele von Euch, als
dass das Weihnachtsfestgefühl so recht hätte aufkommen
können."
Noch einmal, ein letztes Mal, wird es für unsern lieben Vater
"Weihnachten". Zum ersten Male fehlt eines seiner Kinder ganz, auch
seine liebevollsten Gedanken vermögen es nicht mehr zu erreichen. Unser
ältester Bruder Hans ist von uns gegangen. Der Baum steht noch einmal in
vollem Lichterglanz, die Flügeltüren öffnen sich weit. - Vater
legt den Arm um Mama, wir, die wir keine Kinder mehr sind, umstehen das
Klavier, und Karl stimmt leise an. "Stille Nacht, heilige Nacht." Wie
wir an die Stelle kommen "Schlaf in himmlischer Ruh" - da breitet
Vater weit die Arme aus, Tränen stürzen aus seinen lieben Augen, und
leise hören wir ihn die Worte sprechen: "Unten in Bayern, da ist ein
einsames Grab, darüber weht der Wind, und der Schnee fällt in dichten
Flocken drauf."
Wir singen nicht weiter, wir gehen zu ihm und nehmen sanft seine lieben
Hände, und eine schmerzliche Ahnung, dass wir wohl so zum letzten Male mit
unserem lieben kleinen Vater unter dem brennenden Lichterbaum stehen,
durchzittert unsere Herzen. So endet das letzte Weihnachtsfest mit unserem
Vater.
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