Christoph von Schmid
Der Weihnachtsabend
6. Das schöne Gemälde des Kindes Jesu in der Krippe
Der Förster stellte das Gemälde auf ein Wandtischchen und die zwei
hell erleuchteten Wachskerzen daneben. Aller Augen waren auf das schöne
Bild gerichtet. Die Försterin faltete andächtig die Hände und
sagte: "Wahrhaftig, man kann nichts schöneres sehen! Mir wird es, als
wäre ich wirklich bei der Krippe Jesu zugegen! Wie freundlich, wie
holdselig das göttliche Kind uns anblickt, als wolle es bei seinem
Eintritte in die Welt und alle willkommen heißen! Wie Maria, an der
Krippe kniend, so zärtlich und liebreich auf das Kind nieder blickt, es
mit einem Arme umfasst, die andere Hand auf ihr tief gerührtes Herz legt,
und über dem holden Kinde aller Dürftigkeit des armen Stalles
vergisst! Wie ehrwürdig Joseph dasteht, und wie fromm er mit gefalteten
Händen zum Himmel aufschaut! Wie den Hirten die Redlichkeit aus den Augen
sieht; wie ehrerbietig und andächtig sie auf die Knie gesunken sind! Und
die Engel oben, wie himmlisch schön! Wie leicht und schwebend! Und welch'
ein heller Glanz das Kind umgibt, alles umher erleuchtet, und selbst den
Schimmer der Engel überglänzt! Wahrhaftig, wer sich da der Geburt des
Erlösers nicht freuen und mit den Engeln Gott nicht loben und preisen
wollte, der müsste ein Herz von Stein haben."
Der Förster hatte das Bild bisher mit unverwandten Augen stillschweigend
betrachtet, ohne ein Wort zu sagen. Endlich sprach er, wie aus einem
Träume erwachend: "Ja, du hast recht! Wenn wir diese heilige
Geschichte, so schön gemalt und in einen Rahmen gefasst, vor Augen haben,
so macht sie einen neuen, ganz eigenen Eindruck auf unser Herz. Ich will es
einmal versuchen, ob ich es auch sagen kann, was ich alles darin finde und wie
es mir um das Herz ist." Er schob seinen Lehnsessel herbei, setzte sich in
einer kleinen Entfernung von dem Bilde, in der es sich am besten ausnahm, und
sprach dann: "Wir wollen, meine lieben Kinder, unsere Augen zuerst auf das
göttliche Kind in der Krippe richten! Wir wollen aber jetzt auf einige
Augenblicke seiner göttlichen Abkunft noch nicht gedenken; wir wollen es
zuerst nur als Menschenkind betrachten. Schwach und hilflos, in arme Windeln
eingewickelt, liegt es auf ein wenig Heu und Stroh. Aber die liebevolle Mutter
begrüßt es mit freundlichem Lächeln und voll der
zärtlichsten Sorgfalt, es wohl zu verpflegen, und der treue Nährvater
steht teilnehmend dabei, bereit, mit seinem stärkern Arm Mutter und Kind,
das diese treue Liebe, sobald es zur Besinnung kommt, dankbar erwidert, ist der
schönste Anblick auf Erden, über den sich Engel erfreuen müssen.
Dieses liebliche Drei - Vater, Mutter und Kind - hat Gott so
zusammengefügt."
"O meine Kinder, denkt daher bei diesem Kinde in der Krippe: Als ein
schwaches Kind bin auch ich einst so dagelegen, wo man mich hinlegte. Ich
hätte verschmachten müssen, wenn meine Eltern sich meiner nicht
liebreich angenommen hätten. Allein mit Freude und Jubel wurde der kleine
fremde Gast aufgenommen, und alles Nötige war schon zu seiner Ankunft
bereitet. Meine Mutter hüllte mich in meine erste Bekleidung, die Windeln,
die sie wohl selbst gesponnen, gebleicht und genäht hatte. All' ihr Sinnen
und Trachten Tag und Nacht ging nur darauf, dass mir nichts abgehen möge.
Sorgsam wachte sie an meiner Wiege, wenn ich schlief, manche Nacht brachte sie
schlaflos zu, aus zärtlicher Liebe zu mir! Der treue Vater teilte ihre
Sorge und arbeitete für beide. So denket und danket Gott, dass er euch
gute Eltern schenkte! Denn er ist es, der aus Liebe zu euch etwas von seiner
unaussprechlichen Liebe in das Herz eurer Mutter pflanzte, und eurem Vater von
seinem treuen Vatersinne mitteilte und ihm das Vaterherz gab. Seid aber auch
nicht undankbar gegen eure Eltern. Ein Sohn, eine Tochter, die es vergessen
könnten, was die Mutter mit ihnen ausstand, was der Vater für sie
tat, sie zu ernähren, zu kleiden, zu erziehen, wären ohne alles
menschliche Gefühl."
"Lasst uns nun, meine Kinder, nachdem wir die heilige Familie betrachtet,
zu den heiligen Engeln, die dort oben schweben, hinaufblicken - und einen Blick
auf die Tiere des Stalles werfen. Da wird uns die Würde und die Bestimmung
des Menschen klar. - Schaut erst noch einmal der heiligen Jungfrau in das milde
Angesicht voll himmlischer Unschuld und unaussprechlicher mütterlicher
Zärtlichkeit! Betrachtet die aufrechte Gestalt des ehrwürdigen
Josephs, wie er so voll Geist und andacht die Augen zum Himmel erhebt! Sehet
das holde Kind an, dessen Angesicht so lieblich lächelt, dessen Augen wie
Sterne leuchten! Und nun schauet auf die rauen haarigen Tierköpfe - des
Ochsen und des Esels hin. - Wie dumm und vernunftlos sie darein sehen! Wie das
Maul hervorsteht, und uns zu erkennen gibt, dass sie nur auf Futter bedacht
sind und von nichts Höherem und Besserem wissen. Sie sind nicht einmal
eines freundlichen Lächelns fähig! O, wem erscheint bei dieser
Vergleichung der Mensch nicht als ein höheres Wesen? Wahrhaftig, er
gehört einer höheren Reihe von Geschöpfen an. Der roheste Mensch
hielte sich ja für beschimpft, wenn man zu ihm sagte: Du bist um nichts
besser, als der Ochs, der deinen Pflug zieht; als der Esel, der deine
Säcke zur Mühle trägt und dann verfault. Nein, der Mensch
gleicht vielmehr den heiligen Engeln Gottes, die ihren Schöpfer erkennen,
sich seiner freuen und ihm lobsingen. Der Mensch ist das einzige Geschöpf
auf Erden, der dies auch kann. Sei es, das er einige Ähnlichkeit mit den
Tieren hat; er ist doch den Engeln des Himmels näher verwandt. Sei es,
dass er weinend und wimmernd zur Welt kommt, dass er vieles ausstehen, vieles
leiden muss, bis er in seiner vollen Blüte dasteht, dass er dann nach
kurzer Zeit wieder gleich einer Blume dahinwelkt, gleich den Tieren dahin
modert - nur seine Erdengestalt zerfällt zu Staub. Es ist ein
unsterblicher Geist in ihm; er ist ein Engel, in schwaches Fleisch und Blut
verhüllt. Sobald diese Hülle abfällt, ist der Engel vollendet -
wenn anders der Mensch seine Bestimmung auf Erden erfüllt und dem Willen
des Schöpfers gemäß gelebt hat."
"Sehr gut hat der Maler, außer den größeren Tieren noch
ein Lamm und ein Körblein voll Früchte angebracht, die man als ein
Geschenk für das neugeborne Kind am Fuße der Krippe erblickt. Dem
Menschen sind alle übrigen Geschöpfe der Erde unterworfen. Er
bezähmt die stärksten Tiere und sie müssen ihm dienen; ihm gibt
das Schaf Milch und Wolle, ihm bringt die Erde ihre schönsten Früchte
hervor. Nur ein Weniges hat Gott den Menschen den Engeln nachgesetzt, hat ihn
mit Ehre und Hoheit gekrönt, hat ihn zum Herrn seiner Werke gemacht und
alles ihm zu Füßen gelegt."
"Auch der Ort, an dem wir dieses Kind und seine Eltern erblicken, die arme
Kippe und der dürftige Stall, sind nicht ohne Bedeutung. Der Mensch bedarf
keines Palastes, um hier auf Erden seine Bestimmung zu erreichen. Er kann in
der elendsten Strohhütte zufrieden leben und selig sterben. Wir erblicken
in dem Stalle nur Armut und Mangel. Allein und wahrhaftig glücklich, aller
wahren Ehre würdig und von echtem Menschenadel zu sein, braucht der Mensch
weder Samt noch Seide, weder Gold noch Silber. Gerade im wichtigsten hat Gott
keinen Unterschied unter den Menschen gemacht. Ein armer Stall beherbergt hier
die heiligsten, die seligsten, die ehrwürdigsten Menschen, die je auf
Erden gelebt haben."
"Doch, meine Kinder, was ich euch bisher gesagt habe, ist für uns
wohl sehr erfreulich und tröstlich. Allein es gilt nur von dem
Menschlichschönen dieser Geschichte. Die göttliche Abkunft und die
hohe Bestimmung dieses göttlichen Kindes ist erst das Allerwichtigste.
Denn Jesus Christus, der menschgewordene Sohn des Allerhöchsten, ist in
diese Welt gekommen, die Menschen, die von Gott und ihrer ursprünglichen
Würde abgefallen und deshalb verloren waren, zu retten. In ihm erschien
und die Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar, in ihm erblickten wir Gott in
Menschengestalt. Er ward zwar in tiefster Armut geboren, lag als ein Kind in
einer Krippe, hatte in dieser Welt nicht so viel Eigenes, wo er nur sein Haupt
hinlegen konnte, und starb gleich einem Übeltäter am Kreuze. Allein
ohne alle irdische Hilfsmittel, ohne Reichtümer und bewaffnete Macht, hat
er durch seine göttliche Weisheit, Liebe und Allmacht die Gestalt der Erde
verändert, das Menschengeschlecht erleuchtet, veredelt, dem Verderben
entrissen - und so seine göttliche Abkunft bewährt. Darauf wird in
diesem Gemälde, sowie in der Geschichte, sehr schön gedeutet."
"Seht, ringsumher ist es Nacht, tiefes Dunkel deckt die nächtliche
Gegend; nur das Licht, das von dem göttlichen Kinde ausgeht, erhellt alles
mit seinem Glanze. So bedeckten bei der Geburt Jesu die Finsternisse der
Unwissenheit und des Heidentums die Erde; in Jesus Christus ist aber der Welt
ein Licht aufgegangen, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt.
Die Menschen waren in Sünde und Laster versunken, viele glichen an Rohheit
- den Tieren des Stalles; manche hatten sich durch Lasterhaftigkeit sogar unter
das Vieh herabgewürdigt; allein durch Christus wurden alle, die wahrhaft
an ihn glauben, zu besseren Menschen, zu Heiligen, zu Engel in Menschengestalt
neu umgeschaffen. So unwissend und sündig die Menschen waren, so elend
waren sie auch. Allein seht, wie selig sind schon die Menschen, die seine
Krippe umgeben und sich seiner Geburt freuen: Maria, Joseph, die Hirten
fühlen im Anblicke des neugebornen Erlösers sich über alle
Erdenjammer erhoben. Er, der in die Welt gekommen, die Menschen von allem
elende zu erlösen, ihnen wahre Freude und den göttlichen Frieden vom
Himmel zu bringen, machte schon bei seiner Geburt damit den Anfang. Die Worte
des Engels erschallen noch immer an alle Menschen: "Ich verkünde euch
große Freude; es ist euch ein Erlöser geboren, der da ist Christus,
der Herr." "Zu ihm steht jedem Menschen der Zutritt offen. Er
offenbarte sich zuerst armen, einfältigen Landleuten - den Hirten, auch
seine Mutter ist arm, sein Nährvater ein Handwerker, der mit harter Arbeit
sein Brot erwirbt. Schon bei der Krippe Jesu wird uns gezeigt, dass Reichtum,
hoher Rang und Erdenweisheit vor ihm nichts gelten. Er will nur Menschen um
sich sammeln, die eines guten Willens sind, wie Maria, die heiligste Jungfrau,
wie Joseph, der Gerechte, wie die Hirten, diese frommen Männer voll
Gottesfurcht und Rechtschaffenheit. Doch weiset er auch den größten
Sünder nicht zurück, der seine Sünden bereut und sich ernstlich
bessern will. Darauf deutet schon der Name des göttlichen Kindes. Deswegen
verkündet der Engel Marien den göttlichen Befehl: "Ihm sollst du
den Namen Jesus geben!" Deshalb wiederholte er den Befehl dem Joseph:
"Jesus, das heißt Erlöser, sollst du ihn nennen, denn er wird
sein Volk von den Sünden erlösen." Das sündige
Menschengeschlecht sollte sein Volk, ein heiliges Volk Gottes werden. Deswegen
sehen wir über der Krippe Jesu den offenen Himmel. Er wollte den Menschen
den verschlossenen Himmel wieder öffnen, ein Himmelreich auf Erden
gründen, und so Himmel und Erde wieder vereinigen. Darüber freuen
sich die heiligen Engel Gottes, jubeln und frohlocken, preisen Gott in der
Höhe und wünschen den Menschen Glück zu dem Heile, das ihnen
durch Christus bereitet ward." - "Was uns bei der Krippe Jesu
verkündet wird, das hat Jesus Christus erfüllt, so große
Hindernisse ihm auch der Unglaube und die Hartnäckigkeit der Menschen
entgegensetzte; an so vielen seine Geburt und sein Tod verloren war. Er
gründete ein Himmelreich auf Erden, und sein Werk bestand. Manche
Welteroberer stifteten indessen Weltreiche; allein sie überlebten ihre
Reiche nicht lange, oder sahen wohl noch lebend sie in Trümmern zerfallen.
Das Reich Jesu allein - das wahre Christentum - breitete sich immer weiter aus
und bestand bis auf diese Stunde Ganze Völker kamen zum Glauben an ihn,
und Könige zierten ihre Kronen mit seinem Kreuze. Die alten heidnischen
Gräuel, Menschenopfer und dergleichen verschwanden aus den christlichen
Ländern der Erde. Eine Menge von Tempeln und Kirchen erhoben sich, in
denen der wahre Gott angebetet und göttliche Wahrheit gelehrt wird.
Unzählige Schulen, Armenanstalten, Krankenhäuser kamen durch die
christliche Liebe zustande. Wie viele Kinder, Arme und Kranke müssten ohne
diese milden Stiftungen in Unwissenheit, Lasterhaftigkeit und Elend umkommen!
Millionen von Menschen haben im Glauben an Christus Beruhigung über
begangene Sünden gefunden, und sind durch ihn edle Menschen geworden. Und
noch jetzt, so sehr auch der Unglaube und das Verderben überhand nehmen,
schlagen ihm unzählige Herzen und finden in ihm Trost in Not und Tod. Noch
immer wird das Evangelium, die Freudenbotschaft von ihm, den Heiden
verkündet, und wilde Völker bekehren sich zum Glauben an ihn; freuen
sich der himmlischen Wahrheit und nehmen sanftere Sitten an. Der Geburtstag
Jesu ist daher der wichtigste Tag in der Weltgeschichte, und mit Recht singen
die weisen Alten von diesem Tage eine neue Zeitrechnung an. Jede Jahreszahl
soll uns daran erinnern, der Geburtstag Jesu sei der Geburtstag des Lichtes und
Heiles für alle Menschen, die ihm Augen und Herzen öffnen wollen -
der Geburtstag des wahren Menschenglückes, der Erleuchtung und Veredlung
des Menschengeschlechtes. Lasst uns denn, meine Kinder, an diesem Abende und am
morgigen Tage dem Erlöser auf's neue huldigen und in den Lobgesang der
Engel miteinstimmen."
So sprach der Förster; die Försterin sagte gerührt: "Ja,
Kinder, das wollen wir! Das schöne Gemälde, das Anton uns schickte,
ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das Anton oder irgendein Mensch - ja
wohl ein Fürst! - uns hätte machen können. Die Andacht, mit der
ihr die frommen Bemerkungen eures Vaters angehört habt, ist die
schönste Weihnachtsfeier, mit der wir den heiligen Abend feiern
können. Wir wollen das Heil, das uns Gott durch den neugebornen Heiland
bereitete, dankbar annehmen. Dann ist der Geburtstag des Erlösers auch der
Geburtstag unsers Heils."
Fortsetzungen:
1. Das
Weihnachtslied
2. Geschichte des
armen Anton
3. Die edle
Försterfamilie
4. Antons fernere
Geschichte
5. Ein
Weihnachtsgeschenk
6. Das schöne
Gemälde des Kindes Jesu in der Krippe
7. Widerwärtige
Schicksale des Försters
8. Wie es
dem Förster weiter ergangen
9. Ein unerwarteter
Besuch
10. Der Weihnachtsbaum
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Weihnachten im
deutschen Hause
Gustav Freytag
Bärbels
Weihnachten
Ottilie Wildermuth
Weihnachten im Walde
Guido Hammer
Weihnachtszauber
Agnes Günther
Der heilige Abend
Friedrich Naumannn
Weihnachten bei
Theodor Storm
Gertrud Storm
Friede auf Erden
Adolf Schmitthenner
Eine Weihnachtsreise ins
altpreußische Land
Bogumil Goltz
Weihnachten im
Maschinenhaus
Heinrich Lersch
Weihnachten
Adalbert Stifter
Die Roratemesse
Franz Anton Staudenmaier
Bethlehem
Alban Stolz
Das erste Gebet
Christi nach der Geburt
Martin von Kochem
Die drei Opfergaben
Alban Stolz
Die
Weihnachtskrippe daheim
Christoph von Schmid
Die erste
Reise des Jesuskindes
Martin von Kochem
Frau Ursulas
Bescherung
Theodor Meyer-Merian
Durch Nebel zur
Klarheit
Dora Schlatter
Eine
Weihnachtsgeschichte
Dora Schlatter
Gelobet seist
du, Jesus Christ
Dora Schlatter
Nun freut euch, lieben
Christen g'mein
Dora Schlatter
Weihnachten an der
Linie
Dora Schlatter
Wer hat die
größte Freude?
Dora Schlatter
Bergkristall
Adalbert Stifter
Eine
Weihnachtsbescherung
Wilhelm Jensen
Der Weihnachtsabend
Christoph von Schmid
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